Fall Seppelt: Regierung schaltet sich ein

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Quelle: Screenshot aus der Bundespressekonferenz vom 14.05.18

Heute hat sich die Bundesregierung in den Fall Seppelt eingeschaltet. „Wir appellieren an die russische Staatsführung, diesem deutschen Korrespondenten die Einreise zur Berichterstattung über die Fußball-WM zu ermöglichen,“ sagte Regierungssprecher Steffen Seibert auf der Bundespressekonferenz. Seibert forderte sogar die FIFA auf, sich „mit allem Nachdruck“ für Seppelt einzusetzen.

Die freie Berichterstattung über die Weltmeisterschaft müsse gewährleistet werden. „Wir sind der Überzeugung, es stünde Russland als Gastgeber schlecht an, wenn es so offensichtlich die Presse- und Meinungsfreiheit vor den Augen der Welt beschnitte.“ Starke Worte, aber im Grundsatz sehr verlogen.

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Vernunft muss einkehren

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Vernunft muss einkehren: So verkündet es ein Bahnsprecher zurzeit. Er meint damit die streikenden Mitglieder der GDL, die Millionen Menschen am Reisen über Pfingsten hindern würden. Sie sollen aufhören, an den Verhandlungstisch zurückkehren und einen Schlichter akzeptieren. Das aber würde auch bedeuten, die GDL akzeptiert, dass das Bahnmanagement die geltende Rechtslage weiterhin missachtet. Kann das vernünftig sein?

In der Süddeutschen Zeitung schreiben Detlef Esslinger und Heribert Prantl heute folgendes:

Das Argument Weselskys, „Wir lassen nicht über Grundrechte schlichten“, klingt gut, ist womöglich aber hohl; jede Schlichtung entscheidet auch über die Auslegung des Grundrechts. Der Arbeitsrechtler Michael Kittner, ehemals Justitiar der IG Metall, kritisiert daher ein „autistisches Grundrechtsverständnis“ der GDL. Sie missachte die Forderung des großen Senats des Bundesarbeitsgerichts von 1971, dass vor jedem Streik ein Schlichtungsverfahren stattfinden müsse. Fazit: Es könnte vor Gericht eng werden für die GDL.

Diese Bemerkung ist irreführend, weil sie über entscheidende Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) von 2010 hinweg geht, auf die sich die GDL immer wieder und zurecht beruft. Das BAG schaffte in mehreren Entscheidungen die jahrzehntelang geltende Regel der Tarifeinheit ab. Seitdem gilt arbeitsrechtlich das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ nicht mehr. Der Bahnvorstand missachtet diesen Richterspruch aber konsequent und weigert sich, mit der GDL über Tarifverträge für alle ihre Mitglieder zu verhandeln.

Es geht also nicht um die Frage von Macht oder ein wenig mehr Kompromissfähigkeit, sondern schlichtweg darum, ob ein Arbeitgeber damit durchkommt, geltendes Recht solange zu umgehen, bis der Gesetzgeber, der auch noch Eigentümer des betroffenen Unternehmens ist, die Rechtslage nachträglich und zugunsten der Arbeitgeberseite angepasst hat. Die Frage lautet also, ob wir den Rechtsstaat achten oder es vorziehen in einer Bananenrepublik zu leben, in der die tatsächlich Mächtigen unter dem Applaus der Medien offenbar Gesetze bestellen und bis zur Lieferung geltendes Recht biegen und brechen können.

An die Vorgeschichte denken

Zur Erinnerung: Der Streit um die Tarifpluralität, der 2010 durch das BAG entschieden wurde, hat eine Vorgeschichte. Und zwar gerade die Abschaffung der Tarifeinheit durch die Unternehmen selbst. Sie fanden es eine Zeit lang chic oder opportun, die Tarifeinheit aufzubrechen, um einen Keil zwischen die Arbeitnehmer zu treiben. Die Politik hat die Arbeitgeber dabei tatkräftig unterstützt durch Privatisierung öffentlichen Eigentums, die Zulassung von Öffnungsklauseln, die Lockerung der Leiharbeit und nicht zuletzt durch den Ausbau des Niedriglohnsektors. Kurzum: Alles was unter dem Label „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ lief, hat zur Entsolidarisierung der Arbeitnehmerschaft beigetragen. Ganz im Sinne der Arbeitgeber, die so leichtes Spiel bei der Umsetzung von innerbetrieblicher Kostenoptimierung hatten. Zunächst.

Denn die Folge sind nun Spartengewerkschaften, die nur noch ihre eigenen Interessen vertreten und zwar nach dem neoliberalen Grundsatz der freien Konkurrenz. Übrigens haben das auch die Arbeitgeber versucht für sich auszunutzen, indem sie selber Spartengewerkschaften gründeten und zum Nachteil der Beschäftigten Tarifverträge vereinbarten. Allerdings flog das perfide System auf. Der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) ist 2010 – ebenfalls vom BAG – die Tariffähigkeit abgesprochen worden. Konsequenz: Die betroffenen Arbeitnehmer konnten Nachzahlungen einklagen und die geprellten Sozialkassen Beiträge nachfordern.

Über diese skandalöse Entwicklung, die zur Vorgeschichte aktueller Tarifkonflikte hinzu gehört, wird aber kaum nachgedacht oder berichtet, dafür aber über einen mutmaßlich durchgeknallten Ossi, der etwas von Grundrechten erzählt und – ganz schlimm – auch noch auf deren Einhaltung pocht. Manchmal frage ich mich, ob das vereinigte Deutschland, für das so viele auf die Straße gegangen sind und das sich als Sieger über den gescheiterten Osten immer noch feiert, die gepredigte demokratische Grundordnung wirklich ernst nimmt oder nur dekorativ ins Schaufenster gestellt hat.

Vernunft würde herrschen, wenn sich das Bahnmanagement an die geltende Rechtslage hielte. Es liegt nicht im Ermessen der Bahn, der GDL das Recht einzuräumen, über Tarifverträge verhandeln zu dürfen. Die Bahn ist nicht das Gericht, das diese Frage schon entschieden hat. Ein Schlichter ist deshalb überflüssig. Gebraucht wird aber eine Bundesregierung, die das Ausmaß des Versagens ihrer Vorgänger erkennt und die notwendigen Schlüsse daraus zieht. Das wiederum setzt aber voraus, dass die Mehrheitsfraktionen im deutschen Bundestag den Mut finden, jene politischen Zöpfe abzuschneiden, die damals schon gestaltet haben und es jetzt wieder tun.


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Lahmgelegter Verstand

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Die GDL will sechs Tage lang streiken. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang, um auf das abwartende Bahnmanagement den Druck weiter zu erhöhen. Doch obwohl Arbeitsgerichte das Vorgehen der Lokführer als verhältnismäßig und gerechtfertigt anerkannten, rollt eine weitere Empörungswelle durch das Land.

Nach der Streikankündigung der GDL rollt eine weitere Welle der Empörung durch das Land. Das Thema ist auf fast jeder Titelseite zu finden. Daneben wie üblich ein Kommentar mit klarer Aussage contra GDL. Denn die kleine Gewerkschaft, die alle anderen nur in Geiselhaft nehmen wolle, bleibe stur, während der, offenbar durch Vernunft geleitete Bahnvorstand, angeblich nur Kompromisse suche. Beides ist falsch.

Misserfolg wird belohnt

Bahn-Vorstände (be)schimpfen nicht, sondern wählen ihre Worte fein. Ihnen geht es ja auch gut. Zuletzt genehmigten sich die Spitzenmanager eine Gehaltserhöhung um 174 Prozent, schrieb das Handelsblatt kürzlich. Trotz verfehlter Umsatz- und Gewinnziele kassieren die Vorstände des Staatsunternehmens doppelte Erfolgsprämien und kurzfristige Boni. Finanziell gut abgefedert, macht der Tarifkonflikt mit der GDL offensichtlich Spaß.

Denn auch aus der Politik kommt Unterstützung für das (Miss)Management der Bahn. Nicht der Vorstand des Konzerns, sondern die GDL stelle eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort dar, heißt es aus der parlamentarischen Ecke. Und die Regierung spricht gar von Maßlosigkeit und einem nicht mehr zu vertretenden Schaden, angerichtet durch Streik. Der Schaden, den die Konzernführung seit Jahren anrichtet – Stichwort Börsengang, Stichwort Tarifsystem, Stichwort Verschleiß, Stichwort Unpünktlichkeit, Stichwort Rückzug aus der Fläche – bleibt nebensächlich.

Wer darüber hinaus über maßlose Vorstandsgehälter reden möchte, wird schnell mit dem Schlagwort Neiddebatte konfrontiert. Um Geld geht es der GDL nur an zweiter Stelle. Zentral ist für sie die Anerkennung eines Grundrechts, was die empörte Öffentlichkeit nur noch langweilt. Sie hat sich mehrheitlich schon damit abgefunden, dass Regierung und Bahnmanagement die Tarifeinheit durchsetzen wollen. Ein Verstoß gegen das Grundgesetz, natürlich. Aber bis Karlsruhe darüber entscheidet, vergeht Zeit, die sich einplanen lässt. Absehbare Urteile des Bundesverfassungsgerichts werden als Erbe an die Nachfolgeregierung weitergereicht.

Missbrauch der Regierungsgewalt

Missbrauch des Streikrechts? Es wäre an der Zeit über den Missbrauch der Regierungsgewalt zu diskutieren. Seit Jahren kassiert oder beanstandet Karlsruhe Gesetze, bei denen man schon vorher wusste, dass sie gegen das Grundgesetz verstoßen. Konsequenz: Wenig Einsicht bei den Gestaltern, dafür viel Gejammer über eine dritte Gewalt, die angeblich mitregieren wolle. Was ist schon eine Verfassung im Vergleich zu einem mühsam ausgehandelten Koalitionsvertrag. Letzterer muss abgearbeitet werden.

Deshalb kriegt die CSU ihre verfassungswidrige Maut, die CDU ihre verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung und die SPD, ja die Spezialdemokraten bekommen ein verfassungswidriges Tarifeinheitsgesetz, weil das wohl dem DGB gefällt, mit dem man schon beim viel zu niedrigen Mindestlohn gut zusammenarbeitet hat, und der kleinere Gewerkschaften gern vom kuscheligen Markt der geheuchelten Koalitionsfreiheit verdrängen möchte. Schließlich heißt es “Einigkeit und Recht und Freiheit” und nicht “Zu den Waffen, Bürger, Formt eure Truppen”.

Schön wäre es ja, wenn die GDL ein Land lahmlegen könnte. Das passiert aber nicht. Denn die durch Bahnreformen mehr oder weniger kaputt geschrumpfte Bahn hat es geschafft, ihre Kunden weitgehend zu vergraulen. Der Bund als Eigentümer hat es sogar zugelassen, dass alternative Verkehrsmittel immer attraktiver werden, obwohl es eigentlich andersherum sein müsste. Lahmgelegt wird nur der Verstand, der nicht merkt, dass er sich einspannen lässt für Interessen, die niemals die seinigen sein können.


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Griechenland möchte Moscovici-Plan

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Es ist kaum zu glauben. Da melden die deutschen Medien heute, Griechenland habe sich quasi ergeben, weil es nun doch einen Antrag auf Verlängerung des Hilfsprogramms stellen will. Ich bin wirklich entsetzt über diese Fehlleistung der Kollegen, die nicht einmal erklären können oder wollen, wie es zu dem Sinneswandel kam. Einige meinen wohl, das Ultimatum hätte gewirkt. Die Griechen sehen keinen Ausweg mehr. Das ist natürlich alles Quatsch.

Das Ultimatum hat die griechische Seite nicht im Geringsten geschockt. Enttäuscht war man über den Rückzieher der Eurogruppen-Finanzminister, die auf Druck Berlins ein bereits vorliegendes Kompromisspapier des EU-Währungskommissars Pierre Moscovici wieder einkassiert hatten. Diesen Vorgang macht die griechische Regierung nun öffentlich, wie Eric Bonse erfahren hat. Die Zustimmung Athens wird sich dann auch auf dieses Papier beziehen und nicht auf den “Weiter-So-Blödsinn”, den Schäuble und Dijsselbloem erneut vorlegten.

Von einem Kurswechsel, wie viele Medien nun schnappatmend meinen, kann also keine Rede sein. Eher von der Wiederbelebung eines guten Vorschlags, über den Schäuble im Rahmen der Finanzministerkonferenz nicht einmal diskutieren wollte.

Lustig sind nun die Reaktionen. Sigmar Gabriel begrüßte mit einem Bierglas in der Hand das vermeintliche Einlenken Athens. Das sei eine gute Entscheidung, “weil jetzt offensichtlich die griechische Regierung erkennt, dass es nicht um die Interessen ihrer Partei geht, sondern um die Interessen Griechenlands und der Bürgerinnen und Bürger”, sagte Gabriel am Rande des politischen Aschermittwochs der SPD im niederbayerischen Vilshofen. In Bayern ticken die Uhren halt anders.

Was Griechenland will, kann man unterdessen bei der britischen Financial Times nachlesen.


EDIT: Die FAZ schreibt: Schuldenkrise – Griechenland veröffentlicht Verhandlungsdokumente

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenland/griechenland-veroeffentlicht-rede-von-varoufakis-13435497.html


Ergänzung: Äußerst beschämend ist die weitere Medienleistung. Inzwischen wird gemeldet, dass es ein Papier der EU-Kommission am Montag gegeben hat, dem Griechenland auch zugestimmt hätte. Allerdings sei die EU-Kommission nicht berechtigt, Papiere in der Eurogruppe vorzulegen. Diese Darstellung stützt natürlich die harte Schäuble-Position, kommt wahrscheinlich auch von dort.

Die Wahrheit ist aber wie immer mehr als die Summe einzelner Teile. Demnach ist das Treffen der EU-Finanzminister am Montag ja vorbereitet worden und nicht vom Himmel gefallen. Es gibt immer Vorbereitungen, gerade die gipfelerfahrenen Medien sollten das inzwischen mal gemerkt haben. Vor einer Woche sei vor der Sitzung des Europäischen Rates ein Entwurf formuliert worden, der auch von EZB-Chef Draghi und Christine Lagarde vom IWF begrüßt wurde.

In einer Rede stellt der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras den Verlauf der Verhandlungen wie folgt dar:

„In einem harten Verhandlungsprozess, in dem wir es abgelehnt haben, den psychologischen Erpressungsversuchen der Gläubiger nachzugeben, sind wir mit Jeroen Dijsselbloem am vergangenen Donnerstag, fünfzehn Minuten vor Beginn der Sitzung des Europäischen Rates, zu einer gemeinsamen Erklärung gelangt.

Es handelt sich um die Erklärung, die auch der Europäische Rat angenommen hat und durch welche die Eurozone erstmals Abstand davon genommen hat, das Memorandum zur Bedingung des neuen Verhältnisses zwischen Griechenland und seinen Gläubigern zu machen.

Quelle: NachDenkSeiten

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Das gesprochene Wort gilt wenig

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Griechenlands Finanzminister Giannis Varoufakis ist ein eher lockerer Typ, trägt keine Krawatten und hält auch nicht viel von einer Powerpoint-Präsentation, wie man in dieser Woche aus aufgeregten Pressemitteilungen erfuhr. Vor den Kollegen der Eurogruppe referierte der Grieche in Brüssel frei und ohne übliches Handout. Das wirkte auf einige Teilnehmer offenbar so befremdlich, dass sie sich hörbar darüber pikierten. Das gesprochene Wort gilt in Europa wenig.

Der Modus Vivendi fehlt

Was in Europa etwas zählt, sind die von Bürokraten und Unterhändlern vorher ausgehandelten schriftlichen Erklärungen, hinter denen sich die politischen Vorturner gern verstecken, damit sie dann vor die Kameras treten und Erfolge verkünden können, auch wenn die Probleme für jeden sichtbar einfach fortbestehen. Mündlich geht hier gar nichts. Ein Wunder, dass die Teilnehmer kein Dokument vorlegten, in dem sie erklären, dass sie mit dem papierlosen Vortrag des griechischen Finanzministers nicht einverstanden sind.

Das Maulen haben die Fachpolitiker nicht verlernt, denen man sonst jeden Satz aufschreiben muss. Einig sind sie sich jedoch darin, dass ohne schriftliche Vorschläge nichts Konkretes existieren könne. Deshalb müsse Varoufakis erst noch etwas abliefern, hieß es zerknirscht im Anschluss an die Brüsseler Konferenz. Vermutlich hat nur niemand hingehört, wie so oft, wenn es um Griechenland geht. Varoufakis jedenfalls wirbt um Verständigung, einen Modus Vivendi, wie er kürzlich in einem Interview sagte.

Es gibt da einen großen Unterschied zwischen dem „was wir meinen und sagen und der Behauptung anderer, was wir meinen oder sagen“, so Varoufakis. Es ist also zunächst einmal falsch anzunehmen, der griechische Finanzminister hätte nur herum gelabert und die Geduld der Gipfelteilnehmer mit Vorträgen überstrapaziert. Dem Vernehmen nach soll er keine neuen Vorschläge, sondern nur Altbekanntes wiederholt haben, kritisieren die politisch Empörten, die ihrerseits auf die Einhaltung bestehender Vereinbarungen pochten.

Moralische Pflicht, sich zu verstehen

Dass möglicherweise an dem Wiederholten etwas dran sein muss, von dem Varoufakis annimmt, es könne zu einer Lösung beitragen, wird offenbar gar nicht erst in Erwägung gezogen. Europas Retter aus dem Norden wollen lieber neue Vorschläge hören oder vielmehr lesen. Damit ist auch klar, dass sie das „Wiederholte/Altbekannte“ einfach ablehnen, ohne Diskussion. Wer sorgt nun also für den Eklat? Der, der kommunizieren will oder der, der nur auf schriftliche Vorlagen wartet und ansonsten nach dem Motto verfährt: „Dann ist es eben vorbei“.

So radikal geht es natürlich nicht, eine Lösung muss her, das ist allen klar. Und deshalb soll es aus Sicht der Euroretter auch wieder so laufen wie immer. Am bestehenden Kurs nichts verändern, aber es so aussehen lassen, als hätte man ein Zugeständnis gemacht. Möglicherweise hat Varoufakis diese Taktik im Kreise der Finanzminister durchschaut und deshalb einen Rückzieher gemacht, den die Medien hierzulande mit der Überschrift quittieren „Die Griechen brüskieren Europa“.

In dem oben zitierten Interview sagte Varoufakis „Es ist unsere moralische Pflicht als Europäer, uns zu verstehen.“ Was ist aber, wenn es den Rettungskräften in Brüssel und Berlin gar nicht ums Verständnis geht, sondern nur um ein Programm, dessen Umsetzung sie immer noch für richtig halten? Würden sie etwas verstehen wollen, wüssten sie, dass es in Griechenland keine Finanzkrise gibt, sondern eine humanitäre Katastrophe stattgefunden hat, die nichts anderes als eine Diskussion darüber verlangt, wie wir alle in Europa in Zukunft noch zusammenleben wollen.


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Alltäglicher Wahnsinn

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Ein Deutscher Journalist (DJ) fragt einen griechischen Journalisten (GJ) nach dessen Einschätzung:

DJ: Warum stellt die Athener Regierung wieder Beamte ein?

GJ: Weil ein Verwaltungsgericht die Entlassung der Staatsbediensteten für illegal erklärt hat.

DJ: Aber die Beamten kosten doch Geld, das Griechenland gar nicht hat?

Merke: Die marktkonforme Demokratie, die der Deutsche Journalist (DJ) längst verinnerlicht hat, kennt keine demokratische Gewaltenteilung mehr. Der Dialog hat sich soeben bei NDR-Info zugetragen.

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Die Radikalen regieren in Berlin und Brüssel

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Die neue griechische Regierung meint es Ernst und bietet der permanent gepredigten Alternativlosigkeit die Stirn. Denn die systematisch betriebene Verarmung eines Landes hat mit Rettungspolitik nichts zu tun.

Das kleine Griechenland treibt seinen Rettern die Zornesröte ins Gesicht. Da wäre zunächst einmal die Regierungsbildung zu nennen, die entgegen aller demokratischen Gepflogenheiten, bereits einen Tag nach der Wahl als abgeschlossen gelten konnte. Wie geht denn so was, fragte sich der Rest der europäischen Wertegemeinschaft. Weiß doch jeder, dass unter normalen Bedingungen lange zwischen den Koalitionspartnern verhandelt werden oder aber irgendetwas Geschäftsunfähiges über den Ablauf der Legislaturperiode hinaus im Amt bleiben müsse.

Als nächstes machte sich die neugewählte Regierung um Ministerpräsident Alexis Tsipras daran, die eigenen Wahlversprechen in die Tat umzusetzen. Auch das schockte die übrige europäische Wertegemeinschaft, die demokratische Wahlen lediglich als bizarre Showveranstaltung begreift. Hierzulande ist es bekanntlich unfair, Politiker an den Versprechen zu messen, die sie vor einer Wahl abgegeben haben, sagte einmal der große Spezialdemokrat Franz Müntefering. Diesem Offenbarungseid haben sich schließlich alle politischen Lager angeschlossen. Deshalb kann der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger heute auch mit ernster Mine behaupten, das Verhalten der griechischen Regierung sei frech und unverschämt.

Mit dem Tempo überfordert

In Wirklichkeit ist die politische Klasse nördlich der Alpen auf das griechische Tempo gar nicht vorbereitet. „Kein Bock“, war daher die erste Antwort führender Köpfe wie des EU Parlamentspräsidenten Martin Schulz, der eilig und natürlich auf Kosten der Steuerzahler nach Athen jettete. Ihm folgten weitere hochrangige Beamte, die gegenüber den Medien mit Schaum vorm Mund auftraten, in den Gesprächen vor Ort aber kleinlaut erkennen mussten, dass Tsipras Regierung kein Betriebsunfall ist und sich wenig von den Drohungen des Nordens beeindrucken lässt. Die meinen es Ernst und nennen die bisherigen Rettungsaktionen von EU, EZB und IWF bei ihrem eigentlichen Namen: Verarmungspolitik.

Sollte die das Ziel der Troika gewesen sein, kann man durchaus von einem Erfolg sprechen. Massenarbeitslosigkeit, Wegfall des sozialen Netzes und eine große Depression in einem europäischen Land, die ungefähr so schwerwiegend verläuft, wie jene, die Amerika in den 1930er Jahren erlebte. Folgt man den als Retter auftretenden Folterknechten des Nordens soll diese Erfahrung noch einmal wiederholt werden. Wie sonst soll man die Schäubles und Schulzens verstehen, die gebetsmühlenartig ein Weiter so und sogar noch mehr Anstrengungen von den Griechen verlangen. Die letzten Troikaner glauben ernsthaft daran, mit diesen verantwortungslosen wie menschenverachtenden Rezepten noch einmal Zeit schinden zu können.

Doch die Zeit ist abgelaufen. Die Griechen wollen nicht noch mehr Jahre sinnlos verlieren. Die nach Ausbruch der Krise nie verheilten Brüche und Wunden innerhalb der Eurozone treten erneut offen zu Tage. Neben Griechenland werden nun auch wieder andere Staaten die von Berlin aus verordnete Verarmungspolitik lautstark infrage stellen. Denn gerade Länder wie Italien, Spanien und Frankreich haben längst bemerkt, dass mit dem Gerede von einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit immer nur die Deutsche gemeint ist. Südeuropa als verlängerte Werkbank der deutschen Exportindustrie: Das scheint der feuchte Traum von neoliberalen Kräften zu sein, die auf ein Heer billiger Arbeitskräfte und bedingungslose Rentabilität setzen.

Radikaler Umbau vorerst gestoppt

Dafür ist Zerstörung notwendig. Vor allem soziale Sicherungssysteme und der öffentliche Beschäftigungssektor gelten als Hindernisse auf dem Weg zum maximalen Profit. Griechenland war Modellregion für diese Art des brutalen Umbaus im Auftrage Berlins, das auf seine Finanzeliten hört. Doch damit ist jetzt Schluss, so scheint es. Die EZB darf nicht mehr bei der Troika mitmachen und die EU-Kommission unter Juncker will nicht mehr. Nur Berlin, das mit eigenen Beamten die Kontrolleure stellt, sowie die angeschlossenen deutschen Medienhäuser halten an einem Gremium fest, das nie demokratischen Spielregeln entsprach.

Wer sind also die Radikalen? Syriza? Die Linken im Allgemeinen? Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis sagte in einem lesenswertem Interview: „Wenn man sich das Programm der Syriza ansieht, findet sich bis auf den Namen nicht allzu viel, was radikal links wäre. Die Idee, dass Menschen sich im Notfall auf ein soziales Rettungsnetz verlassen können, widerspricht schließlich nicht der sozialen Marktwirtschaft – auch nicht in anderen Teilen Europas.“

Hat der Mann nun unrecht? Ist er gefährlich und sein Chef ein verrückter Geisterfahrer? Nein, dass die Linken gar nicht radikal sind, ziehen nur diejenigen in Zweifel, die ein erfolgloses wie menschenverachtendes Kürzungsprogramm noch immer für intelligente oder alternativlose Rettungspolitik halten. Die Radikalen dieser Zeit regieren eben nicht in Athen, sondern in Berlin und Brüssel.


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Zur Heuchelei um die Pressefreiheit

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Je häufiger heutzutage von Presse- und Satirefreiheit geredet wird, desto weniger ist eigentlich das Grundrecht gemeint. Das Gerede dient den Herrschenden vielmehr dazu, den anderen zu zeigen, wie rückständig sie doch sind.

Wer kann sich noch an den Arabischen Frühling erinnern, als Länder wie Tunesien ihre Diktatoren stürzten und freie Wahlen veranstalteten. Die Begeisterung in der westlichen Welt war zunächst riesig, bis das Abstimmungsergebnis bekannt gegeben wurde. Die Menschen wählten mehrheitlich muslimische Parteien.

Unverständlich für den Westen und seine von der Satire weitgehend befreiten Medien. Bierernst fragten sie damals: „Sind die da unten überhaupt reif für die Demokratie?“ Als dann in Ägypten die Armee auf Demonstranten schoss, die gegen die Absetzung des gewählten Präsidenten Mursi protestierten, schrieben die gleichen Medien, die Demokratie sei gerettet worden.

Anschaulich ja, aber nicht informativ

In Paris versammeln sich einige Staatschefs etwas abseits vom Volk zum Foto-Shooting. Anschließend fahren sie wieder nach Hause. Die Presse nannte das einen kollektiven Marsch gegen Terrorismus und für Grundwerte an der Spitze von einer Million Menschen. Wenn dann aber der Zuschauer dank des Internets bemerkt, dass die Medien am Grund der Sache eher weniger interessiert waren, als vielmehr am Vermarktungswert ihrer Berichterstattung, wird er pampig.

Also nicht der Zuschauer, sondern der Journalist, der den gesendeten Unsinn in seinem aufgemotzten und von uns allen für knapp 24 Millionen Euro finanzierten Studio zu verantworten hat. Kai Gniffke, Chefredakteur der ARD Aktuell Redaktion, sieht sich beinahe wöchentlich verpflichtet, auf Zuschauerkritik in seinem Blog zu antworten. Allerdings lässt der Verantwortliche für die Nachrichten bei seinen Begründungen alles vermissen, was journalistisches Können ausmacht.

Dabei steht seiner Redaktion eine große Medienwand zur Verfügung, die nach eigener Darstellung eine bessere optische Umsetzung von Nachrichten erlaube. Schwierige Sachverhalte können in Form von animierten Grafiken anschaulicher dargestellt werden, so hieß es bei der Präsentation im April letzten Jahres. Anschaulich soll es sein, aber nicht informativ, könnte man heute erwidern. Mit großen Bildern, die nur einen kleinen Ausschnitt zeigen, wird offenbar mehr auf konstruierte als auf echte Realität gesetzt.

Eine tolle Pressefreiheit ist das unterm Strich, die da zur Schau getragen wird und am Sonntagmorgen im Presseclub einen weiteren Höhepunkt erfährt. Dort versammeln sich nämlich regelmäßig fünf namhafte Journalisten, um sich gegenseitig die oftmals gleichlautende Meinung zu bestätigen. Pressefeigheit wäre da treffender.

Pressefreiheit heißt Verantwortung

Das Entscheidende bei dem Begriff Pressefreiheit ist nicht die Freiheit, sondern die Verantwortung. Ein Journalist hat auch immer die Aufgabe abzuwägen und zu prüfen, welche Folgen Berichterstattung oder Meinungsäußerung hat. Wer Pressefreiheit um ihrer selbst Willen missbraucht, hat kein Interesse mehr an der Nachricht oder der Kritik, sondern findet nur Gefallen an der eigenen Machtdemonstration.

Die zum Teil heuchlerischen Solidaritätsbekundungen nach den Pariser Morden folgen genau diesem Muster, wenn zum Beispiel gesagt wird, Moslems müssten ertragen, dass über ihren Propheten gespottet werde. Das „Wie“ wird dabei gar nicht beachtet. Die Frage, welche Kritik die Karikaturisten zum Ausdruck bringen wollten, blieb im Fall von „Charlie Hebdo“ zunächst außen vor.

Inzwischen stellen sich einige Kollegen dieser Frage und haben herausgefunden, dass kritische Aussagen kaum zu finden sind. Die Bilder stehen da, bedienen Ressentiments und sind oftmals rassistischer Schund. Sie stellen eine Provokation dar, die eine Antwort erwartet und eben nicht die Wahl lässt, sie zu ignorieren. Wenn diese Antwort dann auch noch gewalttätig ausfällt, ist der Beweis der schon immer vermuteten Gewalttätigkeit einer uns fremden Gruppe erbracht.

Damit liefert die Pressefreiheit auch das Futter für rassistische Bewegungen, die letztlich mit den Mitteln der Ausgrenzung und der Angst arbeiten. Soll das aber eine Aufgabe von Journalismus sein? Dumpfe Gewalt provozieren und Identitätsstifter für das ein oder andere falsche Bewusstsein sein? Wenn Verantwortung eine journalistische Tugend ist, wird Aufklärung und nicht das Vorurteil zum natürlichen Verbündeten. Mit Zensur hat das nichts zu tun. Die Provokation und Zuspitzung bleibt nämlich erhalten für den, der weiß, was eine Polemik ist.

Alles zu dürfen, heißt nicht, auf gedankliche Arbeit zu verzichten

Für die Satire gilt etwas Ähnliches. Zur Zeit wird wieder Tucholsky inflationär bemüht, der vor gut 100 Jahren auf die Frage, was darf Satire, antwortete: „Alles.“ Die meisten geben sich damit zufrieden, halten das für einen Freifahrtschein, verkennen aber die Überlegungen, die Tucholsky anstellte, bevor er zu seinem Urteil kam. So schreibt er über die Satire, dass sie freilich übertreiben und ungerecht sein muss, aber er sagt auch klar: „Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlich wird.“ Folglich liegt derjenige weit daneben, der mit der Unwahrheit paktiert und dabei glaubt wahlweise witzig, informativ oder kritisch zu sein.

Die Feststellung, dass Satire alles dürfe, befreit nicht von der eigenen gedanklichen Arbeit, die auch für diese Form der freien Gestaltung geleistet werden muss.


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Mediales Trauerspiel

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Vor ein paar Wochen haben sich die Medien noch bemüht, Putin auf dem G20-Gipfel als isolierte Person darzustellen, was misslang. In Paris bemühten sich die Medien nun, Staatschefs, die sich selbst isolierten, als Teil einer großen Masse darzustellen. Auch das misslang. Die Medien sollten vielleicht ihre Mission überdenken.

Ich finde, Kai Gniffke von der ARD sollte noch mal einen Grundlagenkurs zum Thema journalistische Arbeit machen. Natürlich sind Pressebilder Inszenierungen. Man verständigt sich auf ein Motiv oder eine Aussage mit den Abgebildeten. Eine Unterschrift oder ein Handschlag werden oft fürs Foto nachgestellt. Das ist Pillepalle und gehört zum Job.

Doch wie ich beim simplen Spatenstich das Wörtchen „symbolisch“ in der Bildunterschrift verwende, obwohl klar ist, dass ein Gebäude nicht in diesem Moment errichtet wird, so hätte dasselbe Wörtchen beim Aufmarsch der Staats- und Regierungschefs in Paris den zahlreichen Berichten, die etwas anderes suggerierten, sicherlich auch gut zu Gesicht gestanden.

Es wäre keine Schande für die Kollegen, dieses klare Versäumnis einzugestehen. Wer eine Botschaft der Geschlossenheit transportieren will, muss eben auch zur Kenntnis nehmen, dass es sie aus durchaus verständlichen Sicherheits- oder Termingründen nur eingeschränkt geben kann. Der amerikanische Präsident betritt in Europa auch nur Straßen, wenn die Gullydeckel verschweißt sind.

Ob man das ganze dann als symbolischen Akt oder als eine bewusste Inszenierung für die Weltöffentlichkeit beschreibt, ist tatsächlich eine Bewertungsfrage, die im Rahmen der journalistischen Freiheit diskutiert und entschieden werden darf. Die Presse darf das ganze auch ignorieren, wenn ihr die Wirklichkeit als unwichtig erscheint.

Die Aufgabe der Medien ist aber nicht, eine Wirklichkeit zu erfinden oder eine vermeintliche Realität zu zeigen, die andere oder man selbst ganz gern hätte, weil es möglicherweise ein Mehr an Aufmerksamkeit verspricht. Die Aufgabe der Medien besteht nach meinem Verständnis darin, aufzuklären und zu bewerten. Eigentlich ganz simpel.


Link-Tipp: Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von feynsinn mit dem Titel Hoftheorie: Alles nur Theater

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Die fehlende Sachkenntnis ist oftmals das Problem

Geschrieben von:

Alles spricht von „Lügenpresse“ und dem Vorwurf einer bewussten Täuschung durch Journalisten. Wer aber solch ein Verhalten unterstellt, unterstellt auch Sachkenntnis, die nötig ist, um Wahrheit verdrehen oder leugnen zu können.

Viele Leitartikler blamieren sich aber nicht, weil sie um die Wahrheit Bescheid wüssten, sie blamieren sich, weil sie die Wirklichkeit eben nicht kennen und lieber darauf vertrauen, was seit Jahren falsch geglaubt und vorgebetet wird.

Ein Beispiel: Meine Tageszeitung hat sich im heutigen Leitartikel (leider nur im Abo vollständig abrufbar) für das Thema Tarifpolitik entschieden. Darin beschäftigt sich der Autor mit den gleichzeitig anstehenden Verhandlungen in zahlreichen Branchen. Ihm fällt dabei auf, dass es den Gewerkschaften nicht mehr so sehr um Prozente gehe. „Als Konsens haben sich 5,5 Prozent durchgesetzt.“ (die ver.di-Forderung von 11 Prozent hat der Autor im Artikel nicht genannt)

Das Denken wird abgebrochen

Im Vergleich zu anderen Jahren klinge das nicht nach viel, fährt er fort. Statt aber diesen Anflug eines komischen Gefühls weiter zu ergründen und sich zu fragen, warum es eigentlich mehr an Entgeltforderung sein müsste, bricht der Autor das Denken ab und bringt die einfach anmutende wie gängige These an: „Allerdings wären gewaltige Steigerungen auch nicht zu begründen.“ Das muss er natürlich erklären und schreibt dann vermeintlich sicher:

Lohnerhöhungen sollen in erster Linie dem Inflationsausgleich dienen und erreichte Produktivitätssteigerungen abbilden. Nur: Ersterer nähert sich gerade der Nulllinie, und Letztere bewegen sich vielleicht bei etwas mehr als einem Prozent. Hinzu kommt, dass Deutschland in den vergangenen Jahren bei der Reallohnentwicklung kräftig aufgeholt hat – die Tarifgehälter also deutlich schneller stiegen als die Inflation und die Saläre im europäischen Nachbarland.“

Was fängt man jetzt damit an? Offensichtlich weiß der Autor nicht, dass die Entwicklung der Inflationsrate, die 2014 im Schnitt bei 0,9 Prozent lag, von der Entwicklung der Lohnstückkosten (also Lohnkosten im Verhältnis zur Produktivität) abhängig ist. Es gibt also einen unbestritten engen Zusammenhang zwischen Löhnen und Preisen. Die Preise steigen nun aber weniger stark als früher und der Autor schließt dennoch daraus, dass ein kräftiger Aufholprozess bei den Reallöhnen stattgefunden haben muss. Irre.

Dabei zeigt die sinkende Inflationsrate gerade das Gegenteil an, nämlich das irgendetwas bei der Entwicklung der Löhne schiefgelaufen sein muss, sonst wäre die Teuerung höher ausgefallen. Der Autor vergisst auch zu erwähnen, dass es innerhalb der Eurozone eine Zielinflationsrate von 1,9 Prozent gibt, an die sich alle, auch Deutschland eigentlich hätten halten sollen. Taten sie aber nicht, was zu den Verwerfungen, also Überschüsse einerseits und Defizite andererseits sowie den zahlreichen Rettungspaketen führte.

Wo das Wissen fehlt, wuchert die üble Nachrede

Die goldene Lohnregel, die der Autor oben anspricht (Lohnerhöhung = Zielinflationsrate + Produktivitätssteigerung), hätte er mal auf Einhaltung hin überprüfen sollen. Er hätte festgestellt, dass Deutschland schon sehr lange unter seinen Verhältnissen lebt und zugelassen hat, dass die Leistungsbilanzen innerhalb der Eurozone weit auseinander drifteten. Um diesen Prozess nachhaltig umzukehren, müssten sich die hiesigen Tarifpartner folglich auf außerordentlich hohe Abschlüsse verständigen. Schlussfolgerung: Eine gewaltige Steigerung wäre durchaus zu begründen, ja sogar vernünftig.

Stattdessen hängen Bundesregierung, Mainstream-Ökonomen und weite Teile der Presse weiter an den Überschüssen. Sie vertrauen also darauf, dass sich das Ausland bei uns verschuldet und Defizite anhäuft, während in Berlin der ausgeglichene Haushalt gefeiert wird. Ein Widerspruch, der selten in den Kommentarspalten thematisiert wird.

Dass die Gewerkschaften mit ihrer Haltung und ihren bescheidenen Lohnforderungen die Position der eigenen Mitglieder weiter schwächen, wäre durchaus mal eine Erwähnung wert. Stattdessen wird auf Frank Bsirske von ver.di an anderer Stelle wieder eingedroschen, weil er für den öffentlichen Dienst ein Lohnplus von bis zu 11 Prozent fordert, in der Hoffnung bei 5,5 zu landen. Und da die Sachkenntnis auch hier wieder fehlt, wird mit Schaum vorm Mund gnadenlos diffamiert. Fehlt nur noch ein Foto vom Privathaus und die Durchwahl zum Büro des ver.di Chefs.


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