
Die Koalition der Willigen hat an Russland ein Ultimatum gestellt. Sofortige Waffenruhe über 30 Tage oder eine Verschärfung der Sanktionen sowie weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Frist bis Montag, so genau wusste man das aber offenbar gar nicht. Denn der neue Regierungssprecher erklärte erst am Montag, dass die Frist um Mitternacht ablaufe. Sollte Russland bis dahin keine Waffenruhe beginnen, wolle Deutschland und die europäischen Verbündeten dann am Dienstag mit der Vorbereitung neuer Sanktionen beginnen. Im Köcher ist also noch gar nichts, obwohl man nach dem breitbeinigen Fototermin in Kiew am Wochenende zunächst etwas anderes vermuten durfte. Die Drohung besteht also in dem Beginn eines weiteren europäischen Abstimmungsprozesses. Das ist alles so lächerlich…
…und spielt auch keine Rolle, weil sich der preisgekrönte Edeljournalismus nicht so sehr mit dem Stümperhaften der Mächtigen beschäftigt, sondern eher mit Taschentüchern, die armselig Bekloppte in den sozialen Netzwerken für ein Tütchen Koks halten. So etwas erfordert die gesamte Aufmerksamkeit und führt natürlich auch dazu, den peinlich agierenden Regierungen noch ein wenig mehr den Rücken zu stärken. Schließlich geht es nicht nur gegen Putin, sondern auch oder vor allem gegen dessen angebliche Statthalter in den Netzwerken und in der Politik. Man lobt daher die Bemühungen in Kiew über den grünen Klee und schätzt besonders den neuen Ton des zu groß geratenen Zukurzgekommenen, der die Runde der europäischen Loser nach verlorenem ersten Wahlgang im Bundestag doch noch bereichern darf.
Am Mittwoch wird Friedrich der Große im Bundestag seine erste Regierungserklärung abgeben. Vermutlich wird er dann mit Entschlossenheit vortragen, dass weitere Sanktionen in Vorbereitung seien, die sicherlich an die Erfolge der bislang existierenden 16 Maßnahmenpakete nahtlos anknüpfen werden. Diese zeichnen sich vor allem durch ihre schädliche Wirkung auf Europas Wirtschaft aus, während sie gleichzeitig Umgehungsstrategien erlauben, die wiederum dem sanktionierten Land komfortabel über die Runden helfen. Noch vor dem Wochenendausflug nach Kiew war bereits klar, dass ein 17. Sanktionspaket kommen soll. Es sieht eine Verschärfung der LNG-Importbeschränkungen, Maßnahmen gegen Umgehung über Drittländer sowie neue individuelle Sanktionen und erweiterte Exportverbote vor.
Würde man an die Durchschlagskraft dieses Paketes tatsächlich glauben, hätte man doch einen Verzicht auf die bereits geplante Inkraftsetzung angeboten, um als Zeichen guten Willens Russland zu einer Waffenruhe zu bewegen. Stattdessen droht man mit weiteren Sanktionen, offenbar immer noch in völliger Verkennung der militärischen Lage und in der Hoffnung, die USA würden noch einmal mitziehen, um Europa stärker erscheinen zu lassen als es tatsächlich ist. Der amerikanische Präsident scheint das aber anders zu sehen und durchkreuzte das haltlose Ultimatum der Europäer, nachdem die extra betonten, Washington stünde hinter ihrer Initiative. Präsident Trump nimmt dann aber lieber den Vorschlag Putins auf, der seinerseits direkte Friedensgespräche mit der Ukraine in Istanbul an diesem Donnerstag angeboten hat. Die Ukraine solle daher unverzüglich in Verhandlungen einsteigen.
Als grandiosen Schachzug feiern nun die Taschentuchexperten die Reaktion des ukrainischen Präsidenten, der spontan sein persönliches Kommen zusagte und erklärte, dass er auf Putin in der Türkei warten wolle. Dabei hängt dieses Manöver doch ganz offenkundig von der Haltung des amerikanischen Präsidenten ab, der auch keine Skrupel davor hat, einen Staatschef vor aller Welt im Oval Office bloßzustellen. Um ihn nicht zu verärgern, geht Selenskyj auf das Angebot des Kremls ein, konterkariert damit zu einem gewissen Grad die Bemühungen des Wochenendes, aber wohlwissend, dass direkte Verhandlungen zwischen den beiden Staatschefs vermutlich gar stattfinden werden. Das könnten auch die Taschentuchexperten wissen, die aber nun auf einen Rückzieher Putins spekulieren, um sagen zu können, der wolle ja sowieso keinen Frieden.
Aber dann wären auch alle anderen Initiativen völlig nutzlos, wenn es für die Europäer ohnehin gar keinen Zweifel daran gibt, dass der „Feind“ in Moskau nicht wolle und bloß auf Zeit spiele. Es bleibt daher die Frage, ob die ganze Übung gar nicht dazu dienen soll, neues Vertrauen aufzubauen, das zu einem Frieden führen könnte, sondern lediglich dazu, das eigene öffentliche Bild zu verbessern, um die für Europa insgesamt sehr missliche Lage erträglicher zu gestalten. Denn in den Jahren des Kriegs, der nun faktisch verloren ist, hat man die Diplomatie komplett verlernt. Was bleibt, ist eine Kommunikation, die nur Drohungen kennt und die sich, weil man allein viel zu schwach ist, zusätzlich des amerikanischen Beistandes versichern muss, obwohl man inzwischen weiß, wie unberechenbar der dortige Präsident ist.
Die europäischen Außenminister versuchten daher die Bedeutung des Trumpschen Eingreifens heute in London herunterzuspielen. Wohlgemerkt: eigentlich stand eine Verschärfung der Sanktionen im Raum sowie weiterer Maßnahmen. Großbritannien hat davon im Lichte der Signale aus Washington vorerst Abstand genommen, während die Europäische Union an ihren Sanktionsplänen festhält, allen voran Deutschland, dessen neue Regierung noch gegen den Eindruck eines mangelnden Rückhalts ankämpfen muss, da sie erst im zweiten Anlauf ins Amt gekommen ist. Neuerliche Sanktionen könnten sich aber ohne amerikanische Unterstützung zu einer weiteren Luftnummer entwickeln, auch weil die USA Zweifel an der ausgedachten These lassen, Putin sei allein dafür verantwortlich, dass es zu keiner Einigung kommt. Zum Glück gibt es da noch Taschentücher, über die man kompetent fachsimpeln kann.
Bildnachweis: André Tautenhahn
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.