NATO-Gipfel: Ober sticht Unter

Geschrieben von: am 12. Jul 2023 um 11:58

Manchmal hat man den Eindruck, deutsche Politiker reisen nur zu Gipfelgesprächen, um den Tagesthemen per Live-Schaltung ein Interview zu geben, bei dem sie der Öffentlichkeit die Politik der Amerikaner erklären. Die NATO ist und bleibt der militärische Arm der US-Außenpolitik, das hat der Gipfel in Vilnius wieder gezeigt. Dort gab es eine Biden-Show ergänzt um ein wenig Lärm von Erdogan.

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius stand am Abend den Tagesthemen für ein etwa siebenminütiges Interview zur Verfügung. Der Auftritt wirkte wieder souverän, doch inhaltlich war es nur eine Erklärung amerikanischer Außenpolitik sowie eine Rechtfertigung zur etwas seltsamen deutschen Haushaltspolitik, deren Schuldenbremsen-Dogmatik im Widerspruch zu den amerikanischen Budgetvorgaben steht. Demnach sollen künftig nicht mehr bis zu 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung, sondern mindestens 2 Prozent ausgegeben werden.

Immerhin wies der Verteidigungsminister darauf hin, dass diese Zusage bei allem verbindlichen Klang solange unverbindlich bleibt, bis das Parlament über die tatsächlichen Eckwerte des Haushalts entschieden hat. So ist das schließlich in einer Demokratie. Die Hoheit über den Etat ist das „Königsrecht des Parlaments“. Stünde hingegen das Ergebnis der Beratungen schon vorher fest, handelt es sich nicht um einen demokratischen Staat, sondern vielmehr um einen Vasall, der lediglich Vorgaben aus Washington umsetzt. So ähnlich sieht es jedenfalls ganz nüchtern die New York Times.

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In fact, NATO is working exactly as it was designed by postwar U.S. planners, drawing Europe into a dependency on American power that reduces its room for maneuver. Far from a costly charity program, NATO secures American influence in Europe on the cheap. U.S. contributions to NATO and other security assistance programs in Europe account for a tiny fraction of the Pentagon’s annual budget — less than 6 percent by a recent estimate. And the war has only strengthened America’s hand. Before Russia’s invasion of Ukraine, roughly half of European military spending went to American manufacturers. Surging demand has exacerbated this tendency as buyers rush to acquire tanks, combat aircraft and other weapons systems, locking into costly, multiyear contracts. Europe may be remilitarizing, but America is reaping the rewards.

New York Times

Und das Tolle ist, besonders die linken Parteien in Europa, die dem Militarismus und Amerika bislang sehr skeptisch gegenüber standen, sind nun die engagiertesten Verfechter von Konfrontation, Waffenlieferungen und Aufrüstung. An dieser Stelle werden vor allem die deutschen Grünen gelobt, die einst erbitterte Atomwaffengegner waren, nun aber offenbar sogar dazu bereit sind, einen Atomkrieg zu riskieren. Zum Gipfel in Vilnius verkündete die Bundesregierung weitere Waffen im Wert von rund 700 Millionen Euro an die Ukraine zu liefern. Das dürfte wohl diejenigen irritieren, die vor ein paar Tagen noch lesen mussten, dass für die Kindergrundsicherung gerade kein Geld da sei.

Dieser Vergleich rief viel Empörung hervor, insbesondere von den Kriegsberichterstattern und den elenden Experten, die nur die ukrainische Perspektive zulassen und erklärten, dass man doch Waffenlieferungen nicht gegen arme Kinder ausspielen dürfe, weil dies der Ukraine schade. Dabei war es die Außenministerin selbst, die auf dem grünen Parteitag diesen Zusammenhang mit Blick auf Waffenlieferungen herstellte und sagte: „Ich will nicht, dass wir noch mehr im sozialen Bereich sparen und Lisa dann keine Mittel mehr hat für die Kinder, die sie dringend brauchen.“ Das ständige Moralisieren ist schon abseitig, es nur wenigen zu erlauben, macht es noch grotesker, zumal die Logik „keine Waffen, keine Kindergrundsicherung“ gar nicht stimmt, sondern vielmehr heißen müsste, „immer mehr Waffen und trotzdem keine Kindergrundsicherung“.

Es gibt ein Sondervermögen für die Bundeswehr, aber kein Sondervermögen für Soziales und Daseinsvorsorge. Für das eine gilt finanzielle Grenzenlosigkeit, für das andere die Schuldenbremse. Das ruft berechtigterweise Widerstand hervor. Geschrei um unangebrachte Vergleiche ist daher wohlfeil, es nutzt ja auch nichts, den bestehenden Verteilungskonflikt zu leugnen und sich gleichzeitig über die Umfragewerte der Rechten zu wundern.

Aber zurück zum Thema: „Biden Says Ukraine Is Not Ready for NATO Membership“, so wiederum die New York Times. Und dann ist das eben so. Die Abschlusserklärung enthält genau das, was Biden wollte und Pistorius hatte die Aufgabe, es der deutschen Öffentlichkeit in den Nachrichten zu verkünden. Die normalen Standards der NATO einzuhalten, sei eine Selbstverständlichkeit und auch kein Hexenwerk, so Pistorius. Damit versuchte er die deutliche Abfuhr an die Ukraine zu relativieren. Kiew steht aber mit leeren Händen da. Es gibt keine Einladung, NATO-Mitglied zu werden oder gar einen Zeitplan für eine Einladung. Bevor irgend etwas in dieser Richtung geschieht, müssen Voraussetzungen erfüllt sein, die die Verbündeten definieren und bewerten. Das kann alles und noch viel mehr sein, ist also durchaus ein Hexenwerk.

Besonders interessant ist die Vorgabe der Demokratisierung, vor allem mit Blick auf die Kontrolle der Streitkräfte. Daraus spricht die Überzeugung, dass es gegenwärtig nicht so ist. Bislang nannte man so etwas ein gefährliches russisches Narrativ, da es aber vom US-Präsidenten selbst kommt, müssen die elenden Experten bei ihrer pausenlosen Propaganda für die Ukraine nun umdenken und lernen, dass die Interessen vor der Moral kommen. So darf die Ukraine sicherlich weiter die europäischen Werte [sic!] und damit die Demokratie verteidigen, das heißt dann aber noch lange nicht, dass sie eine Demokratie ist, der ein Platz in der NATO zusteht. Auch ist wieder einmal klar geworden, dass eben kein Land selbst entscheiden kann, welchem Bündnis es sich anschließt. Die Amerikaner müssen zustimmen.

Insofern hat Selenskyj durchaus recht, wenn er die Vorgehensweise beim Gipfel als absurd bezeichnet. Es nutzt nur nichts. Ihm wie vielen anderen wird nun schmerzhaft dämmern, der Krieg in der Ukraine ist doch ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, bei dem sich die Amerikaner einfach nur das eigene Personal sparen. Trotzdem geht jetzt die Munition aus, Streubomben sind dagegen noch lieferbar. Die F-16 Kampfjets gehen derweil in die Türkei, als Gegenleistung für die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens. Dazu muss die EU in die Gespräche mit Ankara wieder neuen Schwung bringen, obwohl der Kanzler das überhaupt nicht miteinander vermischen wollte. Aber was hat der schon zu melden? Washington sieht es anders oder Ober sticht Unter.


Bildnachweis: André Tautenhahn

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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