Grenzen der Bauch-Evidenz

Geschrieben von: am 08. Nov 2021 um 17:04

Es ist Montag und der Sprachwahnsinn beginnt vorn vorn. Die ersten Schlagworte sind bereits gesetzt. „Die Tyrannei der Ungeimpften“, „Notbremse Jetzt“ oder „Neuwahlen“. Was haben die Grünen denn geraucht? Würde der Wind des Geplappers Strom erzeugen, er wäre wenigstens ökologisch zu etwas nütze. Rhetorisch geht es offenbar nur noch in einer Art Kriegsmodus weiter. Das Ziel der Attacken, na klar, die Ungeimpften, was auch logisch ist, da man den Geimpften nach derzeitiger Paniklage die Freiheiten ja wieder wegnehmen muss. Da braucht es halt einen Schuldigen, auf den man die Enttäuschung projizieren kann. Es hilft nur nichts.

Anscheinend sind wir in einer Zeit des moralischen Absolutismus‘ angelangt, der durch quasireligiöse Züge gekennzeichnet ist, aber mit den Mitteln eines kleinkarierten Ordnungsrechts, die Durchsetzung sinnloser Maßnahmen versucht. Da regen sich Menschen doch tatsächlich darüber auf, dass ihre QR Codes auf dem Smartphone nicht richtig kontrolliert werden. Der brave Untertan verlangt nach mehr Gängelei, um beweisen zu können, wie folgsam er doch ist. Am laufenden Band berichten Politiker darüber, wie lasch die Kontrollen in Restaurants, Hotels oder Kinos doch seien. Allerdings beruht diese Einschätzung weniger auf fundierten Erkenntnissen, als vielmehr darauf, was man in dieser Krise eine ansteckende „Bauch-Evidenz“ nennen könnte.

Dieser tolle Begriff stammt übrigens von KBV-Chef Andreas Gassen, der letzte Woche meinte:

„Schwierig ist, wenn wir eine Ständige Impfkommission haben, die macht eine Empfehlung, die Ärzteschaft stellt sich da geschlossen hinter, und die Politik gibt dann so eine Empfehlung aus Bauch-Evidenz“, sagte Gassen. Gut gemeint sei nicht immer gut gemacht.

Quelle: Focus Online

Er bezog das auf die Äußerungen zur Drittimpfung, die inzwischen trotz anders lautender Empfehlung der STIKO grundsätzlich für alle angeboten werden soll. Da kann man nur die Daumen drücken, dass die wirklich Gefährdeten wegen der pflichtbewussten Vordrängler am Ende nicht wieder das Nachsehen haben. Natürlich ist genug Impfstoff für alle da, betont der Minister für Pharmaangelegenheiten, aber erst nach 14-tägiger Bestellfrist. Mit Amazon ginge die Lieferung wahrscheinlich schneller. Der Druck auf die STIKO steigt trotzdem weiter, sie möge doch die Drittimpfung für alle auch offiziell empfehlen. Die Politik braucht eben Verbündete, an die sie Verantwortung delegieren kann. Dabei ist das Vertrauen längst vom Misstrauen infiziert.

Schlechte alte Zeiten

Läge den Regierenden dagegen etwas an der Gesundheit, würden sie das Pflegepersonal vielleicht nicht so schlecht behandeln. Man muss sich ja schon fragen, welche Anstrengungen bisher unternommen worden sind, um einerseits den personellen Mangel in den Kliniken zu beheben und andererseits die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass nicht nur die jetzigen Beschäftigten, sondern auch diejenigen, die es mal werden wollen, ein attraktives Angebot vorfinden. In dieser Woche hat die Gewerkschaft ver.di nun zu Streiks im öffentlichen Dienst aufgerufen. Insbesondere Pflegekräfte und andere Mitarbeiter an den Unikliniken sollen dabei warnend in den Ausstand treten. Beklagt wird, dass es die Arbeitgeber, in dem Fall die Länder, nicht für nötig halten, überhaupt ein Angebot auf den Tisch zu legen.

Der Verhandlungsführer der Länder, Niedersachsens Finanzminister Reinhold Hilbers, erklärte zuletzt:

„Wir haben ein dauerhaft abgesenktes Einnahmeniveau verglichen mit der Vor-Corona-Krisenzeit. Darüber können wir nicht einfach hinwegsehen und in die Neuverschuldung gehen.“

Quelle: HAZ

Hilbers, ein Kassenwart alter Schule, der noch gar nicht gemerkt hat, dass die Neuverschuldung vollkommen egal ist, sagt im Prinzip, dass die Pandemie finanzpolitisch jetzt auch mal zu Ende sein muss und mit Blick auf die kommenden Jahre wieder eine gewohnt religiöse Normalität aus Schuldenbremse und Fetisch Schwarze Null gelten sollte. Festzuhalten bleibt daher, nicht die Covid-Erkrankung von Ungeimpften vertreibt die Pflegefachkräfte, sondern die schlechte alte Haushaltspolitik, die im Ergebnis schon lange vor Corona zu der unzumutbaren Dauerbelastung von Beschäftigten beigetragen hat. Der pandemische Alarmzustand wird dagegen nur zum Anlass genommen, um von den Folgen dieser falschen Politik abzulenken.

Nur nebenbei bemerkt: Vermutlich wird sich die Anzahl der betreibbaren Betten dennoch auf wundersame Weise erhöhen und zwar dann, wenn es wieder zu einer Corona-Freihalteprämie für die Krankenhäuser kommt. Das planen jedenfalls die Ampelparteien in Berlin. Das hätte dann auch weniger mit den personellen Notständen zu tun, als vielmehr mit einer betriebswirtschaftlichen Logik, die bei der Bewertung von allerlei Zahlen allzu oft vergessen wird.

Belohnung und Strafe

Aber zurück zum moralischen Absolutismus, der wieder sämtliche Nachrichten beherrscht. Es ist ja ganz einfach. Wenn man einmal damit angefangen hat, Grundrechte nach Wohlverhalten zu gewähren, also quasi „Haste-gut-gemacht-Rechte“ zu verteilen, dann kann man diese Privilegien auch wieder entziehen oder an neue Bedingungen knüpfen, wie sich das im Augenblick ja andeutet. Es ist eine Machtdemonstration der Regierenden, die, solange Gerichte das nicht endlich unterbinden, die Methode Belohnung und Bestrafung weiter anwenden. So werden die kostenlosen Bürgertests vermutlich zurückkehren, obwohl vor ein paar Wochen deren Abschaffung noch enthusiastisch beklatscht worden ist. Nun wird es sie wieder geben, aber sicherlich nur für Geimpfte, weil auch nur die einen 2G-Zugang zu was auch immer haben.

Dadurch erfährt man zwar immer noch nichts über das Pandemiegeschehen, aber Belohnung und Strafe muss halt sein. Für alles andere gibt es schließlich die „Bauch-Evidenz“. Immerhin scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Behauptung Impfung oder Infektion kompletter Unsinn ist. Es ist ganz sicher so, dass es mit oder ohne Impfung immer Infektionen geben wird. Da ist das Virus, das ja nicht über den Oberarm, sondern immer noch über die Atemwege in den Körper gelangt, unspektakulär einfach gestrickt. Das dürfte übrigens noch einmal wichtig werden, wenn es um die Frage einer Impfpflicht geht, die ja angeblich die Tyrannei der Ungeimpften beenden helfen soll. Doch selbst diese Diskussion kommt über „Bauch-Evidenz“ und Parteiengeplänkel nicht hinaus. Warum auch, wenn es mit Schikanen, Gängelei und Stigmatisierung zumindest in den Schlagzeilen so wunderbar klappt.


Bildnachweis: Bruno /Germany auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Daniel  November 8, 2021

    Hessen führt ab 11.11. (wie passend ) die Verpflichtung zu PCR-Tests für 3G-Angebote ein: Gastronomie, Fitnessstudio etc. Alleine aus logistischen Gründen ist es damit unmöglich, spontan Essen oder zum Indoor-Sport zu gehen – von der finanziellen Seite ganz abgesehen. Und damit stellt man auch ganz galant die freundlichen Dienstleister, die gegen geringe Gebühr beaufsichtigte Selbsttests bescheinigt haben, kalt – ohne juristische Scherereien. Faktisch bedeutet das 2G für alles, ohne es so zu nennen. Kleiner Gag am Rande: In meiner Behörde sind seit Anfang September(!) stets 60-90% der Covid-Kranken vollständig Geimpfte! Und nun überzeuge mich mal jemand mit guten Argumenten für die Impfung!

  2. Jörg Wiedmann  November 9, 2021

    Die entscheidene Frage ist: „Wann bricht dieses Lügengebäude endlich in sich zusammen ?“
    Am Anfang hieß es: geimpft = geschützt – keine Infektion mehr möglich – falsch
    Es folgte: geimpft = kein schwerer Verlauf – auch falsch
    Dann: geimpft = schützt andere da geimpfte keine Überträger sind – auch falsch
    Sorry aber das haben die „Coronaleugner “ und sogenannte „Querdenker“ schon vor Monaten genau so vorhergesagt. Aber sind ja alles bloß irre Schwrubler.
    Warum ist bei einer Impfquote von 70% die Inzidenz heute höher als bei einer Impfqoute von 0% letztes Jahr?
    Weil die Impfstoffe eben doch nicht so toll sind wie man versucht uns Bürgern zu erzählen.