
Die schwarz-rote Koalition taumelt zwischen Inszenierung und Realität. Während sie sich nach außen als handlungsfähig präsentieren will, offenbaren sich in zentralen Politikfeldern eklatante Widersprüche. Zwei Beispiele zeigen, wie tief die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit inzwischen ist.
Abschiebepolitik: Wunschdenken trifft Wirklichkeit
Außenminister Johann Wadephul (CDU) hat mit einem einzigen Satz das Kartenhaus der unionsgeführten Abschiebepolitik ins Wanken gebracht: Syrien sei zerstört, die Lebensbedingungen dort menschenunwürdig („Hier können kaum Menschen würdig leben“). Eine Feststellung, die eigentlich, da zutreffend, banal klingt und doch Sprengkraft hat. Denn sie widerspricht dem politischen Mantra, man könne Menschen dorthin zurückschicken. Was passiert, wenn Wadephul demnächst auch Afghanistan unter die Lupe nimmt? In der Union schrillen die Alarmglocken. Nicht etwa, weil man sich um Menschenrechte sorgt – sondern weil das mühsam aufgebaute Bild von Ordnung und Härte in der Migrationspolitik zu bröckeln droht (Spahn warf dem Außenminister offenbar indirekt vor, das Erscheinungsbild der Koalition zu beschädigen). Die Realität stört da nur. Und wer sie ausspricht, gefährdet das politische Narrativ, siehe auch bei table.media, das den Unions-Fraktionschef Spahn wie folgt wiedergibt: „Schon eine Äußerung reiche leider, wie aktuell zu Syrien, die gerade im Bereich irregulärer Migration sehr erfolgreiche Arbeit mit Streit zu überdecken.“
Haushaltspolitik: Milliarden für den Krieg, aber kein Geld für Kanäle
Möglicherweise wäre es ja eine gute Idee, die Ursachen der Migration wirkungsvoll zu bekämpfen, indem man eine Politik betriebe, die sich für die Vermeidung von Kriegen und Konflikten einsetzt, statt sie billigend in Kauf zu nehmen oder weiter zu befeuern. Denn so ließe sich auch der zweite Widerspruch vermeiden: Fast unbemerkt stockt die Bundesregierung die Ukraine-Hilfen um weitere drei Milliarden Euro auf (auch hier). Die Begründung: „außergewöhnliche Notlage“ – ein Kniff, um die Schuldenbremse zu umgehen. Im Grundgesetz ist die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten seit diesem Jahr als Ausnahme von der Schuldenbremse verankert. Für die Änderung des Grundgesetzes trat der alte Bundestag bekanntlich noch einmal zusammen. Gleichzeitig schlagen Bundesländer wie Niedersachsen Alarm: Für die Sanierung maroder Kanäle und Schleusen fehlt das Geld. Das Sondervermögen „Infrastruktur“ ist gedeckelt und eine zugesagte Reform der Schuldenbremse noch nicht in Sicht. Es ist schwer vermittelbar: Für einen Krieg, der nicht gewonnen werden kann, stehen unbegrenzt Mittel bereit („as long as it takes“). Für Investitionen in das eigene Land hingegen wird gekürzt, gestrichen, gestritten. Wer so Prioritäten setzt, darf sich über Politikverdrossenheit nicht wundern.
Kommunikation: Die Fassade hält einfach nicht
Auch die Koalition aus Union und SPD will sich die Welt vor allem schönreden. Doch die Fassade hält einfach nicht. Das wurde schon der Ampel zum Verhängnis. Widersprüchliche Aussagen, fehlende Abstimmung, eine Haushaltspolitik voller Taschenspielertricks, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung schwindet. Dass hier etwas nicht zusammenpasst, ist für jeden leicht zu erkennen. Da werden die anonymen Zwischentöne zunehmend wichtig. „Wenn es in einer Ehe kriselt, dann sollte man es mit einer hoffentlich erfolgreichen Mediation versuchen. Grundsätzlich ist diese Koalition aber nicht alternativlos“, sagte ein Mitglied der Unionsfraktion zu Table.Briefings. Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, hat Kurt Schumacher einmal gesagt. Es wäre höchste Zeit, sich daran zu erinnern und das Betrachten der Wirklichkeit nicht mit dem Betrachten von Narrativen zu verwechseln.
Bildnachweis: KI generiertes Bild mit Grok.
NOV.

Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.