Unverändert dürftige Erkenntnislage

Geschrieben von: am 09. Nov 2020 um 15:24

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (OVG) hat über die Eilanträge gegen die aktuelle Corona-Verordnung bereits am Freitag entschieden. Die Schließung von Gastronomiebetrieben und Fitnessstudios wird demnach nicht außer Vollzug gesetzt. Das ist das Ergebnis einer Folgenabwägung, wie man sie bereits aus dem Frühjahr kennt. Die Schließungsanordnung sei als das kleinere Übel hinzunehmen. Dem steht eine möglicherweise größerer gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung und eine Überlastung des Gesundheitssystems gegenüber, falls man den Eilanträgen jetzt stattgeben würde. Eine Bestätigung des Regierungskurses sind die beiden Beschlüsse aber keinesfalls. Denn das Gericht bemängelt weiterhin eine „nahezu unverändert dürftige Erkenntnislage“, auf der man zu entscheiden habe.

Das heißt, die Strategie von Bund und Ländern, das Informationsdefizit über das Infektionsgeschehen als Lockdown-Argumentationsgrundlage zu nutzen, geht auf. Denn die Betreiber von Restaurants und Fitnessstudios können aufgrund fehlender belastbarer Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen nicht belegen, dass ihre Hygienekonzepte tatsächlich wirken. „Zudem könne die Wirksamkeit der Konzepte mangels belastbarer tatsächlicher Erkenntnisse zum konkreten Infektionsumfeld nicht konkretisiert werden.“ Bleibt die Frage, warum es den zuständigen Behörden seit acht Monaten nicht gelingt, Licht ins Dunkel zu bringen. Selbst die Star-Virologen wissen nichts, sammeln aber Preise für Podcasts und halten tolle Schiller-Reden über die Wissenschaft, obwohl gerade in der Pandemie-Bekämpfung, abgesehen von den Pflegefachkräften (seit Jahren übrigens bekannt!!!) kaum etwas mehr fehlt als die wissenschaftliche Grundlage.

Aus meiner Sicht sind sie nicht angemessen, weil sie kein ausreichendes wissenschaftliches Fundament haben. International gibt es ein Chaos von Studien, deren Ergebnisse oft nicht belastbar sind. Eine Koordination fehlt nahezu völlig. Das Überangebot an Informationen führt dazu, dass sich jeder ein anderes, ihm genehmes Ergebnis herauspicken kann. Heraus kommen große Widersprüche in den Schlussfolgerungen und Entscheidungen, in Deutschland besonders deutlich zu sehen durch den Föderalismus. Besonders dramatisch finde ich, dass man nicht nur wenig weiß, sondern auch gar nicht versucht, sich an Wissen zu orientieren. Das ist für die Bevölkerung extrem desorientierend.

Quelle: Medizinstatistiker Gerd Antes in der Berliner Zeitung

Und Gerd Bosbach, emeritierter Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, kritisiert:

Ja, die Politiker berufen sich auf Wissenschaftler. Aber anstatt klar zu formulieren, was sie eigentlich wissen müssen, werden Studien ausgesucht, die das geplante Vorgehen stützen. Dabei wird dann auch nicht vor Studien zu Hotspots zurück geschreckt, trotz Warnungen der Wissenschaftler. Seit acht Monaten wird versäumt zu messen, wie viel Prozent der Bevölkerung überhaupt infiziert sind und wie gefährlich die Krankheit bei diesen ist. Repräsentative Studien werden mit merkwürdigen juristischen Bedenken abgelehnt. Bedenken, die bei den verkündeten Maßnahmen anscheinend nicht bestehen. Viele weitere statistische Fehldeutungen lohnen ein Studium, um sie bei den nächsten Entscheidungen nicht zu wiederholen. Maßnahmen werden verordnet, Stärke damit vorgetäuscht. Untersuchungen zur Wirksamkeit dieser Aktionen sind aber Mangelware. Dabei bieten die verschiedenen Verordnungen in den europäischen Ländern, in den verschiedenen Bundesländern, zum Teil sogar kommunal unterschiedlich bestes Datenmaterial.

Quelle: Norbert Häring

Schaufensterpolitik

Außerdem steht laut Beschluss des OVG Lüneburg weiterhin die Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Raum. Die Klärung der sehr speziellen Fallkonstellationen könne aber nur in einem Hauptsacheverfahren erfolgen. Wie diese Verhandlung ausgehen könnte, ist offen. Der Senat sieht zwar einen tiefen und wiederholten Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit, dieser werde jedoch abgemildert durch eine in Aussicht stehende erhebliche Kompensation der zu erwartenden Umsatzausfälle. Doch hier müssen die Regierungen, die weiterhin ohne parlamentarische Beteiligung entscheiden, immer noch liefern. Mit einer unkomplizierten und unbürokratischen Hilfe scheint es aber auch dieses Mal nichts zu werden. Wie zu erwarten streiten Bund und Länder über die Modalitäten.

Die Stimmung bei der Bund-Länder-Telefonkonferenz zur Umsetzung der Corona-Novemberhilfe am Freitag sei „äußerst aufgeheizt und angespannt“ gewesen, heißt es.

Quelle: HAZ

An diesem Montag sollen die Gespräche weitergehen. Befürchtet werden Antragsfluten und überforderte Ämter sowie weitere Verzögerungen. Aus der in Aussicht stehenden November-Hilfe könnte somit eine Auszahlung frühestens im Dezember werden. Wenn überhaupt. Sehr wahrscheinlich wird die Enttäuschung bei den Betroffenen wieder groß sein, weil sie die Bedingungen in einem oder mehreren Punkten nicht erfüllen. Es hilft daher nichts, immer wieder hohe Summen aufzurufen und ins Schaufenster zu stellen, wenn hinterher kaum etwas abgerufen wird, siehe Kulturmilliarde oder die 25 Milliarden Überbrückungshilfen, die erst zu einem Bruchteil in Anspruch genommen worden sind.

Die Bund- und Landesregierungen verlangen von den Bürgern eine nationale Kraftanstrengung, sind dazu aber selbst nicht in der Lage. Das zeigt sich bei den Verhandlungen um Hilfen, die nicht einfach, sondern bürokratisch gestaltet sind oder vom Geist der Sparsamkeit und des Misstrauens gegenüber den Anspruchsberechtigten getragen werden. Gelungen ist es auch nicht, das Personalproblem in den Krankenhäusern und Pflegeheimen in den Griff zu bekommen. Seit Jahren ist der Mangel bekannt, seit Jahren geschieht nichts. Die „Covidioten“, die sich auf den Straßen unverantwortlich verhalten, haben diese Zustände nicht herbeigeführt. Sie waren schon da und werden politisch toleriert.

Unberechenbar

Völlig außen vor bleiben auch die Folgen einer unberechenbar gewordenen Politik. Schon nach der Bekanntgabe des Bund-Länder-Beschlusses vom 28. Oktober, der einen begrenzten Lockdown für den November vorsah, wurde über eine Ausweitung, ja sogar eine Verschärfung der Maßnahmen auch im Dezember diskutiert. Man traut wohl den eigenen Verordnungen nicht. Es wird dabei aber auch der Eindruck erweckt, als könne man beliebig oft Lockdowns beschließen. Dabei ist überhaupt nicht klar, „was der erste Lockdown gesundheitspolitisch gebracht hat und vor allem, wie teuer er in ökonomischer Hinsicht war“, schreibt der Ökonom Heiner Flassbeck. Es wird auch widerspruchslos hingenommen, dass die Verfolgung aller Kontakte entscheidend sei und nur unter einem bestimmten Inzidenzwert funktioniere. Wieso dann aber das Infektionsgeschehen abermals außer Kontrolle geraten konnte, bleibt offen.

Stattdessen werden immer wieder Kurven zum Infektionsgeschehen und der Zahl der belegten Intensivbetten gezeigt, um möglichst viel Betroffenheit und Solidarität in der Bevölkerung zu erzeugen. Nur beides schwindet, je mehr nach der Methode Holzhammer verfahren wird und berechtigte existenzielle Fragen beiseite gewischt und dem allgemeinen Gesundheitsschutz untergeordnet werden, wobei gar nicht klar ist, ob die Maßnahmen nicht selbst einen gesundheitlichen Schaden anrichten. Vielleicht setzt die neuerliche Aussicht auf einen Impfstoff dem Spuk rasch ein Ende. Das Projekt nennt sich immerhin „Lightspeed“. Es könnte der hilflos agierenden Politik einen Ausweg aus dem selbst verschuldeten Dilemma bieten. Der Impfstoff muss ja nur verfügbar sein, ob er wirkt, ist letztlich egal.


Bildnachweis: Tumisu auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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