Der Karren wird seit Jahren vor die Wand gefahren

Geschrieben von: am 03. Nov 2020 um 9:20

Die Landesregierung erweckt den Eindruck, das neue Virus sei eine Naturkatastrophe und sorge in Verbindung mit der Unvorsichtigkeit der Menschen dafür, dass das Gesundheitssystem überlastet werde. Das ist eine sehr bequeme Behauptung, die verkennt, dass Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen seit Jahren einem Dauerstress ausgesetzt sind, ohne dass es die Regierung je sonderlich interessiert oder zu einer nationalen Kraftanstrengung motiviert hätte. Allein 30 Prozent der Intensivbetten in norddeutschen Kliniken waren zu Beginn des Jahres gesperrt!, wie es in einem Bericht von panorama 3 heißt, der an eine Recherche aus dem Dezember 2018! anknüpft. Die Situation verschlimmere sich von Jahr zu Jahr. Vor allem Kinderstationen sind betroffen. Einen adäquaten Versorgungsplatz für Schwerstkranke zu finden, werde damit zunehmend zur Glückssache. Das Problem ist damals wie heute immer noch dasselbe. Personalknappheit auf den Stationen. Corona verschärft damit nicht die Lage, wie aktuell ständig behauptet wird, sondern legt gnadenlos das Versagen von Regierungen offen, die sich nur noch mit panischen Lockdowns und Arbeitszeitverlängerungen zu helfen wissen.

Die Landesregierung hat zu Beginn dieser Woche erneut fragwürdige Allgemeinverfügungen erlassen. Über die, die sich mit dem Lockdown befasst, hat der Ministerpräsident den Landtag ausführlich unterrichtet. „Ich stehe mit großem Ernst und in tiefer Sorge vor Ihnen“, so Stephan Weil. Doch ist das glaubwürdig? Man muss daran zweifeln, angesichts der bekannten Personalengpässe, die es in norddeutschen Krankenhäusern schon seit langem gibt und die sich immer weiter verschlimmern. Dennoch fehlt es an Initiativen, die etwas dagegen unternehmen. Nach der ersten Corona-Welle in diesem Jahr gab es einen lächerlichen Streit um die Finanzierung eines Pflegebonus, bei dem noch kleinlich zwischen Alten- und Krankenpflege unterschieden wurde. Ansonsten waren die Haushälter der Großen Koalition schon mit der Frage beschäftigt, wie sie die Corona-Schulden möglichst schnell wieder abtragen können und welche Prioritäten es künftig in der Ausgabenpolitik geben solle. Prioritätensetzung ist übrigens eine infame Umschreibung für Sparpolitik. Umsonst gibt es dagegen wieder den Applaus.

Richtig ist auch der Hinweis, dass die besonders verletzlichen Gruppen besonders zu schützen sind. Der Einsatz von Schnelltests läuft jetzt an und ich bin sicher, die Verantwortlichen in den Krankenhäusern und Pflegeheimen geben sich die allergrößte Mühe, ihre Einrichtungen von dem Virus freizuhalten. Diese Bemühungen sind ungeheuer wichtig und ich danke allen Menschen in den Krankenhäusern und Heimen ein weiteres Mal besonders herzlich!

Quelle: Regierungserklärung Stephan Weil vom 30. Oktober 2020

Ganz umsonst sind die wohlfeilen Worte des Ministerpräsidenten dann aber doch nicht. So hat die Landesregierung die Höchstarbeitszeit für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen erneut auf bis zu 60 Stunden pro Woche erhöht. In der Unterrichtung des Landtages findet sich darüber kein Wort. Das war vermutlich auch nicht nötig, da die Verordnung einem Mechanismus folgt, den die Landesregierung als Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehen verkauft. Nur ist die weitgehende Aushebelung des Arbeitsschutzes für die ohnehin überlasteten Beschäftigten kein geeignetes Mittel der Pandemiebekämpfung, wie Erfahrungen aus China, Italien und Spanien zeigen, sondern ein politisches Armutszeugnis.

Der Lockdown, der nur dazu dient, das andauernde Politikversagen auf den Rücken der Bevölkerung abzuladen, ist weiterhin mehrheitsfähig, das muss man akzeptieren, wenngleich die Gerichte bei der Frage der Verhältnismäßigkeit erneut viel zu tun bekommen werden. Dass es aber in Ordnung gehen soll, die Gesundheit der Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen erneut schärfer denn je aufs Spiel zu setzen, ist nicht mehr akzeptabel. Weil sagte in seiner Regierungserklärung: „Wir reden über Leben und Gesundheit unzähliger Bürgerinnen und Bürger – nicht weniger, sondern vieler Tausend!“ An das Leben und die Gesundheit der Beschäftigten in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen hatte er wohl dabei nicht gedacht. Er sollte sich in Grund und Boden schämen.


Bildnachweis: geralt / Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Benjamin  November 4, 2020

    Das mit dem zerstörten weil auf Profite getrimmten Gesundheitssystem ist genauso eine typisch kriminell Neoliberale Geschichte wie die privatisierung der Renten im speziellen und des sozialen im Allgemeinen. Die Taten der Neoliberalen sind ja hervorrangend koordiniert durch die Mont Pellerin Societe und das seit mehr als 40 Jahren, damals als Thatcher und Regan die ersten populististischen Nebelkerzen der Neoliberalen Verbrecher zündeten. Seitdem ging es für alle Gesellschaften, speziel der westlichen Wertegeneinschaften in allen Belangen nur nach unten wärend die Profite, Vermögen, Besitz und Eigentum der Steuerbefreiten kriminellen Klasse der Reichen in obszöne Höhen stiegen und das ohne die geringste Verbindlichkeit gegenüber den Gesellschaften die man zuvor geplündert hat.