Selbsttäuschung der Mitte

Geschrieben von: am 12. Juli 2025 um 14:34

„Wichtig ist, dass wir bis zum Sommer die Stimmung im Land verbessern. Die Bevölkerung muss merken, dass es einen Unterschied macht, wenn es eine neue Regierung gibt.“ Das sagte Friedrich Merz nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen im April und noch bevor er im Mai vom Bundestag – erst im zweiten Wahlgang – zum Kanzler gewählt wurde. Nach der gescheiterten Richterwahl vom gestrigen Freitag kann von einer verbesserten Stimmung keine Rede sein. Und das liegt daran, weil der Prozess der Selbsttäuschung weiter anhält.

Selbsttäuschung deshalb, weil immer noch in der Kategorie der Mitte gedacht wird. Das ist eine ominöse Umschreibung jener politischen Kräfte in diesem Land, die für sich in Anspruch nehmen, demokratisch legitimiert zu sein. Spätestens mit diesem Bundestag aber, in dem diese Mitte weiter geschrumpft ist und über keine Zweidrittelmehrheit mehr verfügt, fällt die Konstruktion dieser allein akzeptierten Wirklichkeit zunehmend schwer. Die alten Drohkulissen funktionieren mangels Alternativen nicht. Die Union hat sich durch Unvereinbarkeitsbeschlüsse nach rechts und links bewegungsunfähig gemacht, ist damit aber empfänglich für erfolgreiche Kampagnen und Steuerung von außen.

Es ist ja richtig, dass man dem Koalitionspartner nicht zusagen könne, die Wahl einer Richterkandidatin mitzutragen, um später dann festzustellen, dass die notwendigen Mehrheiten in der eigenen Fraktion dafür nicht vorhanden sind. Das hätte man doch vorher klären können. Der ständigen Übung folgend, wäre ein solch problematischer Vorschlag dann auch rechtzeitig zurückgezogen worden. Das Geschacher um die Besetzung von Posten ist schließlich nicht neu. Das Problem bestand nun aber nicht nur darin, die eigenen Reihen geschlossen zu halten. Das hätte schließlich allein nicht ausgereicht. Für eine erfolgreiche Wahl wären neben den Stimmen der Koalition, auch die Stimmen von Grünen und weiterer Abgeordneter nötig gewesen. Mit den Grünen sprach man auch, mit anderen nicht.

Nach der abgesetzten Wahl am Freitag erklärte Alexander Dobrindt (CSU), offen für Gespräche mit der Linken zu sein, falls deren Stimmen für die Wahl der Verfassungsrichter notwendig wären. Das ist interessant. Denn laut Gesetz ist eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, die zugleich die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages umfassen muss. Theoretisch ginge es also auch ohne Linke, wenn die nicht mitstimmt. Dann hätten Union, SPD und Grüne zusammen eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, die zugleich die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages umfasst. Nur wie will man dieses Szenario, dass offenbar den Unvereinbarkeitsbeschluss aus Sicht der Union beachtet und die Selbsttäuschung einer Mitte bestätigt, die nur sich für politisch legitimiert hält, eigentlich erreichen?

Selbst wenn die Union gestanden hätte, wäre also die Wahl nicht automatisch gelungen, da die Linke eine klare Positionierung vermied und weiterhin unter der Nichtbeachtung bei der PKGr-Wahl litt, deshalb sogar mit Konsequenzen drohte. In der Panik am Schluss brachte die Union dann die Wahl nur eines Richterkandidaten ins Spiel, dem vermutlich auch die AfD zugestimmt hätte. Das wäre dann abermals der sichtbare Beweis dafür gewesen, dass es auf die mühsam herzustellenden Mehrheitsverhältnisse in der Mitte des Parlaments gar nicht mehr ankommt und die Union in einem Bündnis mit den Rechten doch viel besser aufgehoben wäre. Das haben aber die Grünen mit ihrer Ankündigung, nur noch einer Absetzung aller drei Wahlen zuzustimmen, verhindert. Damit haben sie die GroKo noch einmal in die Sommerpause gerettet, in der nun nach einer weiteren Verrenkung in der Mitte gesucht wird.

Diese Verrenkungen sind prägend für die geschrumpfte Mitte. Schon bei der Kanzlerwahl kamen sie zum Tragen, als sogar die Linke eine Änderung der Geschäftsordnung zustimmte und damit einen raschen zweiten Wahlgang ermöglichte, in der Hoffnung, endlich Teil dieser Mitte werden zu dürfen. Die Grünen wiederum haben am Freitag die GroKo gestützt, aller vorgetragenen Empörung zum Trotz. Sie verstehen sich eben in erster Linie nicht als Korrektiv zur Regierung, um diese im Zweifel auch ablösen zu können, sondern mit dem Verweis auf die Brandmauer als Bewahrerin einer Mitte, die die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse nicht zu akzeptieren bereit ist. Daher scheitert auch die wichtige Aufgabe einer Regierungskontrolle durch die Opposition, etwa bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, die nicht gelingt, weil man sie nur mit der Zustimmung von mindestens einer Regierungsfraktion erreichen will.

Insofern mögen die Vorwürfe gegen den glücklosen Fraktionsführer der Union zwar berechtigt sein, sie bleiben aber parlamentarisch folgenlos, solange die Opposition die Anwendung der ihr zur Verfügung stehenden Instrumente verweigert. In der Sache spielt es natürlich eine Rolle, welche politische Meinung der oder die Richterkandidaten vertreten, da Verfassungsrecht ein politisches Recht ist und dessen Fortentwicklung davon abhängt, wie Richterinnen und Richter ticken und welches Verständnis sie über bestimmte gesellschaftspolitische Themenfelder mitbringen. Diese Expertise gewinnen sie übrigens häufig durch den wissenschaftlichen Betrieb, aus dem sie ja erwählt werden. Und dem sind widerstreitende Positionen überhaupt nicht fremd. Im Gegenteil. Ohne sie wären Erkenntnisse und Weiterentwicklungen gar nicht denkbar. Welche Richtung, eine eher liberale oder eher konservative, sich am Ende durchsetzt, hängt somit davon ab, welche politischen Mehrheitsverhältnisse, hergestellt durch den Souverän, tatsächlich vorhanden sind. Und da gibt es im Moment eben keine Mehrheit für liberale Positionen, aber auch keine Mehrheit für reaktionäre Träumereien auf Seiten der Rechten.

Kompromisse sind gefragt und die können wiederum nur gelingen, wenn die sogenannte Mitte die fortwährende Selbsttäuschung beendet und endlich damit anfängt, die Realitäten anzuerkennen. Dann könnte sich vielleicht auch wieder die Stimmung im Land verbessern.


Bildnachweis: Screenshot ZDF spezial.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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