Narrative als Religion

Geschrieben von: am 22. Dez 2023 um 8:32

Gefährlich wird es, wenn Narrative zur Religion erhoben werden und berechtigte Kritik daran als Gotteslästerung aufgefasst und mit der Einbestellung der Inquisition bestraft wird. So würde ich es formulieren, um den mittlerweile beliebten Begriff der Cancel Culture zu vermeiden. Den verstehen Oma und Opa ja nicht. Inquisitor, Scheiterhaufen, da weiß jeder, was gemeint ist, wäre das Narrativ, also die Religion nicht so dermaßen bekloppt. Also: das Narrativ geht jetzt so. Einerseits kann die Ukraine mit westlicher Unterstützung Russland, das schon lange am Boden liegt, besiegen, andererseits ist Russland wiederum so stark, dass es die Nato auf jeden Fall angreifen wird und übers Baltikum durch Polen direkt nach Deutschland marschiert. Vermutlich machen die Russen das aber nur, um sich mal so einen bedingt abwehrbereiten Professor (oben im Bild) anzuschauen, der so wahnsinnig komisches Zeugs vor der Kamera, in der Zeit und auf Twitter/X erzählt.

Dass nur zur lustigen Einstimmung. Kollege Eric Bonse schreibt besorgt: „Gestern war die Ukraine noch auf der Siegerstraße, heute braucht sie 500.000 neue Soldaten, um zu überleben – und schon morgen könnte Russland gewinnen und EUropa überfallen: Das westliche Narrativ hat sich bedenklich verschoben.“ Na ja, Deutschland muss kriegsbereit sein, dafür wird der Aufriss veranstaltet. Die eingeläutete Zeitenwende, die sich am Dämon in Moskau orientiert und bereits zu einem üppig ausgestatteten, wie unangreifbaren Sondervermögen im Grundgesetz geführt hat, braucht entsprechende Begleitmusik. Dass die grünen Wähler auf Landesverteidigung so gar keinen Bock haben, wie wir vorgestern herausgearbeitet haben, spielt natürlich keine Rolle. Das Problem ist nicht der Krieg, sondern sind die innenpolitischen Verteilungskämpfe.

Genosse Mützenich, auf den niemand so recht hört, hat das erkannt. Er sagt:

„Weil die 8 Milliarden Euro für die Ukraine und vermutlich noch weitaus mehr im Kernhaushalt eingestellt werden, kommt es zu innenpolitischen Verteilungskonflikten, bei denen das eine gegen das andere ausgespielt wird.“

Rolf Mützenich (SPD), RND

Sehr richtig. Und wie blöd wird es erst, wenn 100 Milliarden Euro Sondervermögen weiter für Panzer mit einem Verbrauch von 530 Litern Diesel auf 100 Kilometern ausgegeben werden, wohingegen gar kein Cent mehr für den Trecker des Bauern von nebenan übrig bleibt, der mit seiner Maschine beim Weizenanbau je nach Bodenart, Anbaumethode und Feldgröße zwischen 33 und 120 Liter Diesel pro Hektar verbraucht. Während der Bauer aber etwas produziert, was wir alle essen können, ist so ein Panzer samt Besatzung auf dem mittlerweile gläsernen Gefechtsfeld kaum noch zu gebrauchen. Und zum bloßen Umgraben landwirtschaftlicher Flächen wäre ein Leopard vermutlich einfach zu teuer.

Nur ist das Kriegsgerät von der Haushaltsmalaise überhaupt nicht betroffen, der Traktor hingegen schon. Landwirte im ganzen Land sind deshalb aufgebracht und demonstrieren nach wie vor gegen die Kürzungen beim Agrardiesel und bei der Kfz-Steuer. Am 8. Januar ist die nächste Großdemo angekündigt. Und wie es scheint, steht die Bevölkerung zu großen Teilen hinter den Landwirten. Aber das ist eigentlich nebensächlich. Von Bedeutung ist, dass die Prioritätensetzung, die nur eine alberne Umschreibung für Kürzungen ist, in der Praxis nicht funktionieren kann. Ja, der Staat soll sparen und mit dem Geld der Bürger ordentlich umgehen, was leicht gesagt ist, weil dem Abstrakten das Konkrete fehlt. Wenn nun aber deutlich wird, dass das Geld der Bürger ja eben diesen auf vielen Wegen wieder ganz konkret zugute kommt, wächst auch die Erkenntnis, dass öffentliche Ausgaben von großem Nutzen, ja buchstäblich existenziell sind.

Mit anderen Worten: Soll die Politik doch woanders sparen und nicht bei mir, sonst wird Rabatz gemacht. Ja, aber wo soll sie nur sparen? Da kommt der Experte von oben ins Spiel, der erklärt, dass der Russe unmittelbar vor der Tür steht, damit niemand auf die Idee kommt, die üppigen Sonderfonds und milliardenschweren Hilfen für die Ukraine infrage zu stellen. Das tut auch Genosse Mützenich nicht. Er schlägt daher vor, die Schuldenbremse auszusetzen, um diese gebundenen Mittel aus dem Feuer des Verteilungskampfes zu nehmen, damit wiederum Spielräume entstehen, um den schwelenden Brand im Innern zu löschen. So wird es natürlich auch kommen, gar keine Frage, die Ampel retten wird das aber nicht mehr. Unantastbar bleiben nur die „Experten“, die nicht Regierungsberater genannt werden wollen, sich aber wie Inquisitoren aufspielen und über die Einhaltung religiös anmutender Narrative wachen.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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