
Die diplomatischen Spielräume sind erschöpft – nun wird die Entscheidung militärisch erzwungen. Das kann man in Gaza sehen, das kann man in der Ukraine sehen. Was bleibt, ist die Frage nach der Höhe der Rechnung, die Europa für seine Realitätsverweigerung zu begleichen hat. Immer mehr Beobachter kommen zu dem Schluss, dass die Folgen westlicher Kriegsabenteuer verheerend sind, selbst dann, wenn keine eigenen Soldaten in den Kampf geschickt werden.
Dazu besteht auch nach wie vor keine Bereitschaft, weshalb sich das Gerede über die weitere militärische Unterstützung (as long as it takes) auch erübrigt. Entschlossenheit ist kein Ersatz für fehlende Infanteristen. Die geführten Debatten – hauptsächlich von Influencern, die man fälschlicherweise Experten nennt – gehen deshalb auch an der Wirklichkeit vorbei. Zur Realität gehören andere Dinge. So werden zum Beispiel für den Wiederaufbau des Gazastreifens derzeit Kosten von rund 70 Milliarden Dollar veranschlagt. Die Europäische Union plant dazu einen Spendengipfel (Palestine Donor Group), doch die Haushalte in Europa und der arabischen Welt sind angespannt. Außerdem: die Waffen schweigen noch immer nicht. Gleichzeitig steht die EU vor der Herausforderung, in den nächsten zehn Jahren mindestens 500 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der Ukraine aufbringen zu müssen. Auch hier: die Waffen schweigen noch lange nicht.
Wie schon in früheren Konflikten wird Europa von den USA in die Rolle gedrängt, die finanziellen Folgen militärischer Eskalationen zu tragen, meint David Goeßmann. Er schreibt im Magazin Jacobin , dass die Verwüstungen in Gaza vor allem mit US-Waffen und israelischen Soldaten angerichtet wurden – und nun sollen europäische und arabische Staaten für die Schäden aufkommen. „Es ist die übliche deutsch-europäische Doppelrolle: Erst helfen beim Zerstören, dann zahlen für den Wiederaufbau des Zerstörten. Deutschland ist dabei nicht nur Musterschüler beim Aufräumen, sondern agiert als treuer Verbündeter an der Seite der USA, um Israels Verwüstungen in den besetzten Gebieten zu ermöglichen und danach die Beweislage zu entfernen.“
Mit Blick auf die Ukraine zahle Europa nun den Preis für die moralische Überhöhung des Konflikts. Statt nüchterner Interessenvertretung dominierte bislang Gesinnungspolitik, meint Harald Neuber in der Berliner Zeitung. Er schreibt, dass die Ukraine nie eine reale Chance hatte, Russland militärisch zu besiegen. Aha. Gleichzeitig lobt Neuber das Erreichte. Das Land habe beachtlichen Widerstand geleistet und sei viel weiter gekommen als erwartet. „Der Mut und die Opferbereitschaft der Ukrainer verdienen Respekt und Anerkennung“. Das liest und hört man ständig, weil es offenbar eine Pflichtübung ist, um dem sinnlosen Sterben doch noch einen Sinn zu geben. Doch wer anerkennt, dass ein militärischer Sieg unrealistisch war, kann Opferbereitschaft nicht als Tugend feiern. Er muss sich doch fragen, wie es so weit hat kommen können. Stattdessen sollen die Hinterbliebenen und Verstümmelten mit dem Respekt und der Anerkennung westlicher Sofageneräle offenbar ihre Schmerzen lindern.
Es bleibt dabei: Dieser Krieg hätte nie stattfinden dürfen. Und jene, die unermüdlich die Opferbereitschaft der Ukrainer bewundern, sollten sich fragen, worin das eigentliche Versagen liegt. Kriege werden geführt, weil die Politik versagt. Deshalb ist es dem amerikanischen Präsidenten auch wichtig zu betonen, dass es nicht sein Krieg ist, sondern der seines Vorgängers im Weißen Haus. Wäre es seiner, müsste er sich wohl so kleiden, wie der ukrainische Präsident, dessen Outfit im Oval Office den Amerikanern gerade keine unwichtige Randnotiz ist. Wie konnte es so weit kommen? Eine Antwort auf diese drängende Frage fehlt, obgleich es zahlreiche stumpfsinnige Erzählungen dazu gibt, besonders die vom Großmachtstreben eines angeblich Wahnsinnigen, der in den Augen der oben genannten Influencer aber immer noch so vernünftig ist, keine Atomwaffen zu benutzen, egal wie sehr man den Krieg auch nach Russland trägt.
Währenddessen steht der deutsche Kanzler im Bundestag und träumt von der stärksten konventionellen Armee Europas. Das Parlament stellt ihm dafür Milliarden zur Verfügung und der Präsident des Reservistenverbandes der Bundeswehr rechnet schon einmal vor, dass im Falle eines Krieges geschätzt 1000 getötete oder verwundete Soldaten pro Tag ersetzt werden müssten. Nachbesserungen bei der Wehrpflicht seien demnach nötig und der Kanzler stimmt zu. „Ich bin skeptisch“, so der Regierungschef mit Blick auf den vorliegenden Gesetzentwurf des Koalitionspartners. Doch wenn militärische Antworten politische Debatten und Diplomatie ersetzen sollen, warum trägt auch er dann keine Uniform wie der ukrainische Präsident? Die Inszenierung bleibt unvollständig. Kriege entstehen, weil Politik versagt und die Versager ihr Heil anschließend in der Rolle des Feldherrn suchen. Der Kanzler, der gern eine strategisch herausgehobene Rolle in Europa spielen möchte, trägt dafür aber die falschen Kleider.
Bildnachweis: Bild generiert mit KI/Grok.
NOV.

Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.