Stand der Dinge

Geschrieben von: am 07. Apr 2021 um 7:20

Die Wirkung von Lockdowns ist weiterhin mehr als zweifelhaft. Wissenschaft und Politik liefern immer noch keine brauchbaren Antworten auf die Frage, welche Maßnahmen wie wirken. Die Debatte ist bestimmt von Modellen und weniger von gesicherten Erkenntnissen. Dass harte Ausgangsbeschränkungen die Ausbreitung der Mutation gebremst hätten, ist in diesem Zusammenhang reine Propaganda. Niemand hat das untersucht. Vielmehr hat man einfach nur den Rückgang der Meldezahlen mit der Ausgangsbeschränkung in Verbindung gebracht (Korrelation), ohne zu prüfen, ob es auch einen kausalen Zusammenhang gibt. In sozialen Netzwerken und Medien wird dennoch nach einem noch härteren und dafür kürzeren Lockdown verlangt. Dabei zeigt die Erfahrung, dass es den nur noch als löchrigen Dauerzustand geben kann.

Die rechtliche Einordnung der Pandemiepolitik wird immer bedeutsamer. Die Forderung nach harten Lockdowns oder einzelnen Maßnahmen wie Ausgangssperren ist sinnlos, so bald die Gerichte zu der Ansicht gelangen, dass die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist oder der Staat die behauptete Erforderlichkeit aufgrund anhaltend fehlender Erkenntnisse nur unzureichend begründen kann. Maßnahmen auf Verdacht zu ergreifen, wird nun einmal nicht ewig toleriert. Demokratisch verfasste Regierungen können die Rechtsprechung nicht einfach ignorieren. Daran ändern auch die kindischen „MachtEndlichAllesZu-Schreiereien“ nichts. Die Zu- und Abnahme von Infektionen hat ohnehin vielmehr mit dem Verhalten der Menschen zu tun, als mit Mutationen, die mutmaßlich immer ansteckender und bedrohlicher werden. Die Maßnahmen müssen daher vor allem eines sein, nachvollziehbar. Das brächte vermutlich mehr, als das ständige Schüren von Angst.

Das Tübinger Modell ist wiederum ein schönes Beispiel für die Erkenntnis-Verweigerung, die gerade von denen betrieben wird, die immer erzählen, man solle doch endlich mal der Wissenschaft folgen. Die Fallzahlen gehen hier hoch, weil man mit 8000 Schnelltests pro Tag wahllos in die Breite geht, was selbstverständlich den Inzidenzwert beeinflusst, der für sich genommen aber keinerlei Bezugsrahmen hat, sondern stets abhängig von der Anzahl der Tests ist. Ob sich am Infektionsgeschehen nun etwas verändert hat, darüber lässt sich keine Aussage treffen. Der Vorteil der Methode besteht nur darin, das örtlich bestehende Dunkelfeld besser ausleuchten zu können. Langfristig könnte das dann dazu führen, dass die Lage kontrollierbarer wird, weil der Corona-Status der Gesamtbevölkerung transparenter und eine schnellere Reaktion bei Ausbrüchen möglich ist. Der Nachteil liegt auf der Hand. Das Verfahren ist unfassbar aufwendig und teuer. Da gibt es bessere Methoden.

Es verwundert bis heute, warum das Einmaleins der Statistik immer noch nicht zur Anwendung kommt. Man braucht eine Stichprobe oder, um es sozialwissenschaftlicher auszudrücken, Kohorten, die man stellvertretend für die Gesamtbevölkerung untersucht und beobachtet. Man könnte auch einzelne Systeme wie den Nahverkehr oder Konzerte gesondert untersuchen. Nur so lassen sich Zahlen gewinnen, die man auch einordnen kann und die mehr aussagen als theoretische Modelle mit einer Reihe von Annahmen. Es nutzt auch weiterhin nichts, nur positive Fälle zu zählen und diese ritualisiert in der Tagesschau vorzutragen. Das führt dann nur zu einer österlichen Wiederauferstehung des statistischen Weihnachtsdesasters. So tragen die Infektionszahlen auch jetzt wieder den Hinweis „Wegen des Test- und Meldeverzugs an den Feiertagen leider nicht zu gebrauchen“. Warum sollten die Daten nach ein paar Tagen aber besser für eine Auswertung oder Beurteilung der Lage sein?

Rechtskonservative füllen Leerstelle der Kritik

Dieses absurde Inzidenzenraten, das letztlich über Sein und Nichtsein von Lockdowns entscheidet, ist lächerlich. Die Zahlen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten und bleiben daher statistischer Mist. Um das zu erkennen, muss man auch kein Querdenker sein. Von dieser seltsamen Bewegung, die regelmäßig demonstriert und gegen geltende Auflagen verstößt, muss man überhaupt nichts halten. Das gilt aber auch für die liberalen Haltungslinken, die der Meinung sind, dass Demonstrierende, auch wenn sie sich friedlich verhalten, unbedingt mit staatlicher Gewalt hart und kompromisslos zu behandeln sind. Überhaupt sind diese, meist über soziale Netzwerke ausgetragenen Grabenkämpfe vollkommen sinnlos, weil sie den Rechtskonservativen in die Karten spielen. Journalisten wie Reitschuster, Fleischhauer, Strunz, Tichy und Co. besetzen geschickt die Leerstelle der Kritik, indem sie, ohne mit dem infantilen Lockdown-Hammer zu schwingen, auf das Staatsversagen bei der Pandemiebekämpfung hinweisen und auf den schlechten Zustand des gesamten Landes, das weder Flughäfen bauen, noch Schulen digitalisieren oder die Gesundheit der Bürger vernünftig schützen kann.

Als Ursache wird aber nicht das gescheiterte neoliberale Modell genannt, sondern auf einen lähmenden Behördenapparat verwiesen, der viel zu bürokratisch geworden ist und der, man ahnt es schon, nur ordentlich auseinandergenommen und am besten mit unternehmerischer Logik schlank gemacht, vielleicht sogar privatisiert werden muss. Und so wird die berechtigte Kritik am katastrophalen Pandemiemanagement zum Überträger einer altbekannten politischen Agenda, die es dem Staat letztlich erneut verbieten will, genau die Probleme abzustellen, die das Coronavirus schonungslos offengelegt hat. Dass gerade die Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie die Verwaltung seit Jahren mit der ordoliberalen Sense – sie nennen es Effizienz – zurechtgestutzt werden, bleibt vollends im Verborgenen. Viele Behörden und Einrichtungen sind dramatisch unterfinanziert, die Arbeitsbedingungen schlecht und das Personal fehlt oder wandert ab. Es ist das genaue Gegenteil von dem real, was die Rechtskonservatien auf ihren immer erfolgreicheren Plattformen und durch die Pandemiehintertür ihren Lesern glauben machen wollen.

Da sprechen im Grunde nur die Anwälte des enttäuschten Besitzbürgertums, dessen prominente Vertreter das Land schon immer gern zum Sanierungsfall erklärten, wenn eine Regierung durch Skandale und Unfähigkeit allmählich in die Binsen geht. Von einem regelrechten „failed state“ mit Blick auf die Stadt Berlin spricht zum Beispiel der Manager Wolfgang Reitzle in der Welt am Sonntag. Die vielen Defizite seien für ein führendes Industrieland beschämend. Das stimmt natürlich, aber auch er macht sich trickreich die allgemeine Empörung zunutze, um die neoliberale Botschaft vom staatlichen Ungeheuer als Ursache allen Übels auszusenden und so die wahren Zustände, an denen seine Klasse tatkräftig mitwirkte, zu verschleiern.

„Der Staat beansprucht die Totalkontrolle über das Impfen und versagt kläglich – wie immer, wenn es um Effizienz und Geschwindigkeit geht. Unnötig viele Menschen sterben wegen der Unfähigkeit unseres überregulierten Behördenapparats.“

Dass diese Leute inzwischen immer mehr Zuspruch erhalten, hat wiederum viel mit dem Totalausfall der politischen Linken zu tun, deren Vertreter sich zuhauf in den (a)sozialen Netzwerken tummeln und es dort für wichtiger erachten, dass die Wasserwerfer endlich Menschen von der Straße putzen, nur weil die das Tragen einer Maske verweigern oder eine bescheuerte Meinung vertreten. Das Ganze ist offenbar so gefährlich, dass man diese Ansichten entweder durch noch dämlichere Faktenchecker verbal entwerten oder in letzter Konsequenz auch mal physisch wegkärchern muss. Was dem Rechtskonservativen der Fetisch Schwarze Null ist, ist dem woken Linken seine Haltung. Ihm geht es nur um Werte, nicht um Veränderung. Und so werden die einst größten Regierungskritiker zu folgsamen Strebern und die bislang folgsamsten Streber zu den größten Regierungskritikern. Im Ergebnis bleibt dann nur eines gewiss. So eine Pandemie hat offenbar gar nicht so viel mit Viren zu tun, sondern viel mehr mit Menschen. Brücken sind zwischen ihnen dringend notwendig, Brücken-Lockdowns dafür nicht.


Bildnachweis: CDU Deutschland auf Twitter am 27.11.2019

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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