Ellbogengesellschaft

Geschrieben von: am 31. Dez 2020 um 21:45

Ausflügler sind trotz Warnungen an und zwischen den Feiertagen im Harz, Erzgebirge, Bayerischen Wald, Sauerland, Taunus, Schwarzwald und überall da unterwegs, wo sonst noch Schnee gefallen ist. Ein paar Zentimeter weiße Pracht reichen bereits aus, um die Menschen zuhauf und trotz Pandemie raus in die Natur zu locken. Damit konnte natürlich niemand rechnen, also mit Schnee im Winter und natürlich auch nicht mit mehr als einer Handvoll Leuten, die der häuslichen Langeweile und dem spätmerkelischen Biedermeier irgendwie entfliehen wollen. Sollte man das Jahr einfach so abhaken? Nein. Denn die Ellbogengesellschaft sieht man nicht nur an einer neuen Begrüßungsform.

Trotz der Bilder aus Deutschlands Mittelgebirgen spielt sich das öffentliche Leben immer seltener draußen, dafür mehr in den (a)sozialen Netzwerken ab. Manche tragen übrigens auch hier Maske, wie die Avatare nahelegen, vermutlich um der eigenen Bubble und vorbeisurfenden Eindringlingen klarzumachen, dass man stets auf der richtigen Seite steht. Twitter ist ein Kindergarten, in den sich mittlerweile auch gern Virologen begeben, um wichtige wissenschaftliche Informationen zu teilen, wie „Bilden Sie sich fort„ oder „Ich habe Besseres zu tun“. Doch auch am Ende dieses Jahres bleibt nur der Eindruck von Sandkastenspielchen. Man könnte ja auch zum Telefonhörer greifen und diejenigen anrufen, denen man etwas mitzuteilen hat. Dann erübrigt sich auch das Beleidigen und anschließende Blocken im Internet. Gerade eben lassen einige Beflissene ihre Follower noch wissen, dass sie bislang keine Rakete in ihrer Gegend haben steigen sehen. Aus gesundheitlichen Gründen hätte es wohl mehr Sinn, dieses virtuelle Klo für Sprechdurchfall zu schließen, statt Kitas in der echten Welt.

Wenn wir alle besser auf uns achtgeben, könne man diese Pandemie bewältigen, so der Bundesgesundheitsminister, der es irgendwie versemmelt hat, genügend Impfstoff zu besorgen und auf die Länder zu verteilen. So droht die groß angekündigte und bereits mit wenigen Dosen und vielen Kameras gestartete Immunisierungskampagne bereits in der ersten Januarwoche ins Stocken zu geraten. Um bei dem ganzen Elend aber möglichst nüchtern zu bleiben, rief Spahn die Bevölkerung zugleich zur Zurückhaltung bei den Silvesterfeiern auf. Dafür langt er bei den Rücklagen der gesetzlichen Krankenversicherung ordentlich hin. Mit Ablauf des Jahres werden vermutlich auch Sie eine Information ihrer Krankenkasse erhalten haben, mit der bedauerlicherweise eine Erhöhung des Zusatzbeitrages zum 1. Januar angekündigt wird. Wegen Corona, wie es heißt, was natürlich falsch ist, da es wegen Jens Spahn ist, der beispielsweise plan- und ziellos Milliarden Schutzmasken, darunter haufenweise Mängelexemplare, zu überteuerten Preisen eingekauft hat.

Der Bankkaufmann, mit einem Händchen für teure Berliner Villen- und Wohnungsgeschäfte, ist derzeit neben Angela Merkel beliebtester Politiker. Er macht gute PR in eigener Sache. Darunter fällt auch die Nummer mit dem Zusatzbeitrag, den ja technisch gesehen nicht er, sondern die Krankenkassen erheben. Im Wahljahr ist das praktisch, da sich Kritik auf deren Unfähigkeit, mit dem Geld richtig umzugehen, lenken lässt. Schließlich hätte der Minister auch den allgemeinen Beitragssatz anheben können, was aber einer Regierung, die ja immer die Beitragssatzstabilität als essentiell predigt, schlecht zu Gesicht stünde. Es ist aber noch viel schamloser. Die Anhebung des Zusatzbeitrages wird die Mehrausgaben kaum ausgleichen, weshalb die Rücklagen der Kassen bis zur Bundestagswahl herhalten müssen. Der Bundeszuschuss aus Steuermitteln wird zwar auch erhöht, deckt aber nur etwa ein Drittel des gesamten Fehlbetrages. Dabei ist die Bewältigung der Corona-Krise eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und sollte nicht allein oder zu zwei Dritteln den Beitragszahlern überantwortet werden.

Allerdings interessiert diese Art der seltsamen Ellbogen-Solidarität niemanden, nicht einmal die SPD, die sich auf Twitter lieber mit Corona-Leugnern zofft oder kopfschüttelnd das Treiben von Familien im Schnee verfolgt. Kollege Timo Reuter schreibt im Freitag treffend:

Viele Linke, ob Journalistinnen, Aktivisten oder Politikerinnen, arbeiten sich nun aber lieber an irgendwelchen Protesten ab. Natürlich muss man kritisieren, wenn Menschen neben Rechten demonstrieren. Man muss sich auch klar davon abgrenzen – und wenn nötig dem entgegenstellen. Doch zugleich muss man die Frage stellen, ob solche Proteste weiter wachsen, weil Kritik von Anfang an weitgehend delegitimiert wurde. Sicher, die derzeit sichtbaren Proteste gegen die Corona-Maßnahmen wollen vermutlich am liebsten den präpandemischen Kapitalismus zurück, der bei Gut- und Wutbürgern gerne als Rheinischer Kapitalismus verklärt wird. Und wenn auf den Demos Kapitalismuskritik geäußert wird, dann oft auf eine verkürzte Art: so, als ob ein böser Geheimzirkel den eigentlich guten Kapitalismus missbraucht und eine Pandemie vortäuscht, um Kontrolle über die Menschen zu erlangen. Doch statt dem eine differenzierte, regierungskritische Kapitalismuskritik gegenüberzustellen, scheint die (nötige) Abgrenzung gegen Rechts viele Linke geradezu in die Arme einer unsozialen und teils autoritär agierenden Regierung zu treiben. Doch wo bleibt dann eine echte Opposition?

Kein Wunder also, dass Spahn und letztlich auch Angela Merkel an Beliebtheit weiter zulegen werden, wenn sich die Menschen nur für unnütze Dinge wie böllernde Nachbarn oder Maskenmuffel interessieren. Gelobt wird Merkel übrigens auch für die deutsche Ratspräsidentschaft, weil sie ein Wiederaufbauinstrument durchgesetzt hat, das aber nur durch eine Preisgabe der Rechtsstaatlichkeit erkauft werden konnte. Am Ende verlässt nun auch das Vereinigte Königreich endgültig die Europäische Union. Warum wird Merkel also gelobt? Merkel ist nicht die Krönung einer guten Europapolitik, sie ist die Ursache für den Zerfall Europas. Das wird sich auch 2021 nicht ändern. Die Gesundheit ist dieser Regierung, die schamlos am Neoliberalismus festhält und dabei nun auch noch Applaus von den Linken bekommt, herzlich egal. Und natürlich werden die Grünen es sich nach der Bundestagswahl auch lieber mit der Natur verscherzen als mit der CDU.


Bildnachweis: Screenshot, WDR Lokalzeit via Tagesschau

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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