Weil der Westen den Krieg in der Ukraine hätte verhindern können, wird Putin als unberechenbarer Imperialist dargestellt, dem es nur um die Eroberung und die territoriale Ausweitung des russischen Staatsgebietes geht. Dem stehen aber die Verhandlungen unmittelbar nach Kriegsbeginn (die New York Times berichtet) entgegen, die mit dem Ziel geführt worden sind, die militärische Auseinandersetzung unter der Erfüllung von Bedingungen, die auf diplomatischen Wege vor Kriegsausbruch nicht zu erreichen waren, sofort zu beenden.
Ein Fortschritt oder gar Abschluss von Verhandlungen wird aber mit Verweis auf die Floskel, wonach es keinen Diktatfrieden Russlands geben dürfe, systematisch unterbunden. Auch jetzt wieder, da die Verhandlungsposition der Ukraine und des Westens sich zunehmend verschlechtert. Hochrangige Militärs, wie der ehemalige US-Generalstabschef Milley hatten nach einer erfolgreichen Zurückdrängung der Russen im Jahr 2022 darauf hingewiesen, dass es nun klug wäre, in Verhandlungen einzutreten, da ein Momentum sowie eine Position der Stärke erreicht worden war.
Man entschied sich dagegen und der ukrainische Präsident für eine Friedensformel, die auf der vollständigen Kapitulation Russlands beruhte. Es folgte eine Sommeroffensive im Jahr 2023, die an den Verteidigungsanlagen der Russen zur Überraschung der westlichen Militärs, die die Operation mit geplant hatten, jäh hängen blieb und unter massiven Verlusten scheiterte. Nun fordern die Russen ihrerseits aus einer Position der Stärke heraus die Kapitulation. Dennoch ist man im Westen der Auffassung, den Krieg immer noch gewinnen zu können, was aber nur über ein direktes militärisches Eingreifen der NATO überhaupt noch vorstellbar ist.
Die Bereitschaft einzelner Staaten, tatsächlich Truppen zu entsenden und einen offenen Konflikt mit Russland zu riskieren, ist allerdings in Wirklichkeit, trotz eines gefährlichen Maulheldentums, mit Blick auf die Folgen nicht sehr hoch. Allen voran die USA haben kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit einer Nuklearmacht, wohl aber an der weiteren militärischen Schwächung Russlands durch Abnutzung. Die findet wiederum eine Begrenzung in den zur Verfügung stehenden ukrainischen Ressourcen.
Dass da noch was zu holen ist, beweist eine Verschärfung der Debatte. So werden jetzt noch jüngere Jahrgänge im Inland mobilisiert und das Leben von wehrfähigen ukrainischen Männern im Ausland unangenehmer gemacht. In Deutschland sollen sie nach dem Willen von Union und FDP zum Beispiel kein Bürgergeld mehr erhalten. Aber nicht, weil die Besserstellung ungerecht gegenüber anderen Geflüchteten wäre, die nur Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, sondern weil sich geflüchtete ukrainische Männer im wehrfähigen Alter nicht einfach wegducken sollen, während ihr Land neue Soldaten benötige.
Nicht aus Nächstenliebe
Geht es in der Ukraine also um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten? Auf diese Frage gab die US-Vizepräsidentin Kamala Harris auf dem Bürgenstock in der Schweiz eine Antwort. „Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“ Und der amerikanische Senator Lindsey Graham erklärte in einem Interview etwas deutlicher: „Die Ukraine könnte das reichste Land in ganz Europa sein. Ich möchte nicht, dass Putin diese Ressourcen bekommt und sie mit China teilt.“
Menschenrechte, Demokratie, Europa verteidigen, das alles ist bei näherer Betrachtung nur wohlfeiles Gerede, auch dass die Ukraine selbst entscheiden könne, was sie wolle und mit wem sie kooperiere. „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten“, sagte einmal Egon Bahr vor Schülern. Auch aus diesem Grund braucht es den Dämon als Alibi. Er soll von einer kalten Interessenpolitik ablenken, die natürlich schmutzig und menschenverachtend ist und die letztlich auch den Stellvertreterkrieg in der Ukraine am Leben erhält.
Das eigentliche Problem des Wertewestens scheint dann auch nicht der Einsatz von Ukrainern zu sein, die für den Kampf um Frieden und Freiheit ihr Leben opfern sollen oder müssen, dafür aber die volle Unterstützung und Anerkennung deutscher Schmalspurpolitiker auf Twitter/X erhalten, sondern die Kosten des Krieges, die zu einer Belastung gewählter europäischer Regierungen werden. In Frankreich wird es Neuwahlen geben. Das Chaos ist dort jetzt schon da. In Deutschland stehen wiederum die Haushaltsverhandlungen an, mit Positionen innerhalb der Ampelregierung, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Dafür wird gemeldet, dass Deutschland im laufenden Jahr 90,6 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben und damit das Zwei-Prozent-Ziel der Nato überschreiten wird.
Wenn Zeitenwende bedeutet, dass das Militärische eine höhere Priorität hat, werden Einschränkungen in anderen Bereichen zwangsläufig. Steigende Ausgaben für Verteidigung sorgen somit für eine Verschärfung bestehender Verteilungskonflikte. Die kann sich die Ampelregierung angesichts ihrer Umfragewerte aber nicht mehr leisten. Im Osten sind die Verschiebungen bereits deutlich spürbar. Die Ergebnisse der Europawahl haben zudem gezeigt, wohin die Reise bei den anstehenden Landtagswahlen gehen wird. Die Ministerpräsidenten sind deshalb alarmiert und der Kanzler offenbar zu Zugeständnissen bereit. Mit ihrem Wahlverhalten hätten die Bürger zum Ausdruck gebracht, dass sie die Unterstützung der Ukraine kritisch sähen. Darüber könne man nicht hinwegsehen, auch wenn er selbst anderer Meinung sei, so Scholz. Im Osten verfängt die Nummer mit dem Dämon als Alibi eben nicht.
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JUN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.