Über die Klugheit im Nachhinein

Geschrieben von: am 27. Jan 2023 um 10:20

Die Zeit beschäftigt sich in dieser Woche mit dem Thema „Unsere Corona-Fehler“. Darin Bekenntnisse von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten. Ich habe mich geirrt ist eine Sammlung von Statements überschrieben. Häufig liest man da heraus, dass man im Nachhinein klüger geworden sei, eine beliebte Floskel, um dem Eingeständnis des Irrtums die Angriffsfläche zu nehmen, um das eigene schuldhafte Verhalten zu relativieren.

Man hört jetzt auch oft von den Verantwortlichen, dass sie dies und jenes nicht mehr so machen würden, also zum Beispiel die Schulen und Kitas zu schließen oder die Spielplätze. Doch Zweifel an diesem Lerneffekt sind angebracht, da es doch immer darauf ankam, was öffentlich durchsetzbar war. Der Stand der Erkenntnis spielte nie eine Rolle. Man verzichtete sogar aktiv darauf, das Wissen, das man hat, zu nutzen und dort, wo Wissen fehlt, es durch Forschung Schritt für Schritt zu verbessern. Stattdessen erfand man einfach Realitäten, indem man zum Beispiel Modellen vertraute, deren Aussagekraft aufgrund der vielen Annahmen schlichtweg unbrauchbar war. Dennoch nahm man stets das schlimmste Szenario als Begründung für politische Entscheidungen.

Kurzum: es war eben möglich, das alles zu tun und deshalb hat man es getan. Dafür gibt es auch einen schönen Beleg. Nach dem ersten Lockdown versprach der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn im September 2020 mit seiner bekannten Formulierung „Mit dem Wissen von heute, würden wir anders handeln“, dass es keine Schließung des Einzelhandels mehr geben werde. Es kam bekanntlich anders und der Lockdown dauerte noch sehr viel länger. Der Punkt ist einfach, dass man hinterher eben nicht klüger ist, sondern man immer befürchten muss, dass sich dieser schlimme Machtmissbrauch einfach wiederholt. Der Lerneffekt muss daher in der Erkenntnis bestehen, dass es viel zu einfach ist, Grundrechte über eine fragwürdige Verordnungspraxis außer Kraft zu setzen. Eine dringende Aufgabe von Politik und Gesellschaft wäre es da sicherlich, diesen eklatanten Mangel zu beheben.

Sandra Ciesek, die Virologin aus Frankfurt und neben Christian Drosten Expertin im Podcast „Coronavirus-Update“ sagt in der Sammlung der Irrtümer: „Unterschätzt wurde möglicherweise, dass soziale Folgen von Lockdowns und anderen Maßnahmen ungleich verteilt sind. Ärmere in kleineren Wohnungen haben weniger Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten. Heute weiß man, wie unterschiedlich Arm und Reich betroffen sind. Das kann man als lesson learned für kommende Pandemien mitnehmen.“ Das ist eigentlich skandalös, da es sich hier keinesfalls um eine Erkenntnis im Nachhinein handelt. Dieses Wissen stand immer zur Verfügung und hätte in einer Folgenabwägung durchaus berücksichtigt werden können, wenn man andere Disziplinen sachgerecht angehört und gewürdigt hätte. Dass die podcastende Virologie nichts über sozialwissenschaftliche Zusammenhänge weiß, ist nachvollziehbar, sie sollte daher auch nicht so tun – weil sie plötzlich so populär geworden ist – als könnte sie darüber qualifizierte Aussagen treffen. Das ist anmaßend und die falsche Einschätzung von Frau Ciesek an dieser Stelle ein weiteres Beispiel für die seltsame Abgehobenheit, die den politischen Machtmissbrauch erst möglich machte.

Man heuchelt nun Unwissenheit, wo Wissen immer bestand, und täuschte Wissen vor, wo man stets im Dunkeln tappte. Das nannte man dann auch noch follow the science und verbat sich abweichende Meinungen, schreckte sogar vor Verunglimpfungen anderer Disziplinen nicht zurück. Nun beschwert sich aber die Vorsitzende des Ethikrates darüber, dass es ein tiefes Bedürfnis nach Abrechnung mit allen Maßnahmen zu geben scheine, bis hin zu Rachewünschen. Eine von Rache und Wut getriebene Suche nach Schuldigen sei falsch. Das stimmt, vor allem mit Blick auf Äußerungen wie „Tyrannei der Ungeimpften“ oder „Die Impfverweigerer nehmen eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft.“ Die undifferenzierte Abrechnung mit den Maßnahmenbefürwortern nach der Pandemie folgt der undifferenzierten Abrechnung mit den Maßnahmengegnern während der Pandemie. Oder simpel mit Goethes Zauberlehrling gesprochen: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“

Es gibt eine vernünftige Ordnung, an die sich eine „Wir sind aber die Wissenschaft“ nicht mehr unbedingt halten wollte. Das Ergebnis ist Chaos. Noch bis zum Februar wird den Menschen zum Beispiel das Tragen von Masken auferlegt, nicht aber, weil es sich aus der Ordnung heraus ergäbe, nein, denn das zuständige Gesetz ist längst gegenstandslos geworden, aber man tut einfach so, als bestünde die Rechtsgrundlage einfach fort und ersetzt die konkret definierte Krankheit einfach durch eine oder mehrere andere, abgesichert von „der speziellen Wissenschaft“, die das irgendwie für richtig hält. Das Gesetz wird derweil nicht geändert, vermutlich weil die demokratische Mehrheit dafür fehlt, deshalb wird von den Lehrlingen der Machtmissbrauch mit Hilfe eines Ordnungsrechts ohne Rechtsgrundlage einfach fortgesetzt. Sonderlich klug oder klüger ist das immer noch nicht.


Bildnachweis: Titelseite der Wochenzeitung Die Zeit, Ausgabe 5/2023 vom 26. Januar 2023

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Susanne Seidel  Januar 30, 2023

    die Statements so wie sie abgedruckt sind, werden dem angerichteten Unheil in keiner Weise gerecht.

    Und das Wichtigste fehlt: wenn all die, die sich jetzt rauswinden wollen, damals die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft beachtet hätten, die kritischen Stimmen nicht diffamiert sondern ernstgenommen hätten, dann wäre viel Schaden vermieden worden.

    • Klaus  Februar 3, 2023

      Kluger Kommentar