Kriegsziele ändern sich

Geschrieben von: am 17. Mai 2022 um 6:00

In der letzten Woche hat es eine erneute Wende im Ukraine-Krieg gegeben. Nachdem Kanzler Olaf Scholz am Freitag mit Putin telefonierte und einen Waffenstillstand verlangte, telefonierte der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin ebenfalls am Freitag erstmalig wieder mit seinem russischen Amtskollegen Sergey Shoygu. Laut einer Mitteilung des Pentagons fordert auch Washington einen sofortigen Waffenstillstand sowie die Aufrechterhaltung der Kommunikationswege. Das könnte darauf hindeuten, dass die Ukraine nun doch nicht kurz vor einem Sieg über Russland steht, auch wenn Twitter-Deutschland das anders sieht.

Lloyd Austin hatte am 25. April noch erklärt, dass man Russland so weit schwächen wolle, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist. Austin wertete es als Erfolg, dass Russland durch den Krieg bereits viele militärische Fähigkeiten eingebüßt und viele seiner Truppen verloren habe. Nun ist Mai und wenn Washington losmarschiert, dackelt Berlin gewöhnlich hinterher, in diesem Fall folgt auch die glorreiche Außenministerin Annalena Baerbock. Sie forderte am Sonntag nach dem Nato-Außenministertreffen in Berlin laut diesem Bericht einen Waffenstillstand als Voraussetzung für einen Dialog mit Russland.

Hört, hört, sie will doch reden

Baerbock: Waffenruhe ist Voraussetzung für Dialog mit Russland

Außenministerin Annalena Baerbock hat Russland am Sonntag erneut zu einer Waffenruhe in der Ukraine aufgefordert. Nur dann könnte der Dialog mit Moskau wiederaufgenommen werden, sagte die Grünenpolitikerin nach einem Nato-Außenministertreffen.

Das ist interessant: Vor ein paar Tagen hieß es von Baerbock nämlich noch, dass man erst dann wieder miteinander sprechen könne, wenn sich Russland vollständig aus der Ukraine zurückgezogen habe.

„Für uns ist klar: Eine Aufhebung der Sanktionen gibt es nur, wenn Russland seine Truppen abzieht. Ein Frieden zu Bedingungen, die Russland diktiert hat, würde weder der Ukraine noch uns in Europa die ersehnte Sicherheit bringen. […] Einen Weg zurück zu der Zeit vor dem 24. Februar gibt es nicht. Auf Putins Zusagen allein können wir uns nie wieder verlassen.“

Quelle: Welt Online

Nun heißt es, Diplomatie stirbt nie. Es sieht folglich so aus, als sei die deutsche Außenministerin zurückgepfiffen worden oder hat vielleicht realisiert, dass in einem Krieg nicht nur die eine Seite massive Opfer in den eigenen Reihen zu beklagen hat. Über die Verluste der Aggressoren wird ständig berichtet. Demnach soll Russland bereits ein Drittel seiner Bodentruppen, die es im Februar eingesetzt hat, verloren haben. Über die Verluste der Ukrainer weiß man hingegen nichts. Vielmehr wird so getan, als könne das Land den offenbar nicht mehr so übermächtigen Angreifer sogar militärisch besiegen. Das klingt ein wenig so, als ob die ukrainischen Soldaten aufgrund ihrer Tapferkeit unverwundbar wären und einfach wieder aufstehen und weiterkämpfen, wenn sie erschossen werden. Das ist dann aber doch nur Propaganda.

Wahrscheinlicher dürfte sein, dass der erbittert geführte Kampf auf beiden Seiten sehr viel mehr Opfer fordert als bislang bekannt. Möglicherweise fehlen der Ukraine nicht nur genug Waffen und Treibstoff, sondern inzwischen auch das Personal, um die Gerätschaften zu bedienen. Russland, so nimmt man an, dürfte vor ganz ähnlichen Problemen stehen und Schwierigkeiten haben, neue Kampfverbände aufzustellen, wobei das nur eine Mutmaßung ist. Niemand weiß genau, wie viele Reserven Russland tatsächlich hat und mobilisieren kann. Man sollte dieses Potenzial aber nicht unterschätzen, warnt der ehemalige militärpolitische Berater von Altkanzlerin Angela Merkel, Brigadegeneral a.D. Erich Vad. Wie auch immer, ohne Truppen wird das Führen eines klassischen Bodenkrieges zu einem Problem. Möglicherweise halten die ukrainischen Verbände nicht mehr lange Stand und auch die massive Unterstützung von außen scheint das Blatt eben nicht wie erhofft zu wenden.

Mehr Schaden als Nutzen

Der Krieg scheint somit an einem Punkt angekommen zu sein, an dem er für beide Seiten mehr Schaden als Nutzen bringt. Die verbalen Aufgeregtheiten, die es aktuell nun wieder gibt, einschließlich der eiligen Nato-Beitrittsgesuche von Finnland und Schweden wirken so, als stecke man das Terrain für künftige Verhandlungen ab. Die Türkei lehnt die Aufnahme der beiden Nordländer übrigens ab. Erdogan, der selbst lange Zeit isoliert und eine Art Zwittererscheinung zwischen Gut und Böse war, weiß eben, wie man das Feld der Geopolitik jetzt bespielt, um sich wieder in eine Position von Bedeutung zu manövrieren. Das muss man alles nicht schön finden, gehört aber zum Einmaleins der Weltpolitik. Das ist eben etwas anderes als die nervigen Moralvorträge auf Twitter. Ein Stück Realpolitik belegt auch eine weitere Passage des oben verlinkten Berichts.

Die russische Regierung habe deutlich gemacht, dass ihr etwa die Nato-Russland-Grundakte von 1997 nichts mehr wert sei, kritisierte Baerbock. Die Grundakte sei einseitig von Russland aufgekündigt worden. Deshalb stärke die Nato die Ostflanke. Zudem müsse man dafür sorgen, dass Finnland und Schweden bei einem möglichen Beitritt nicht bedroht würden. Dies gelte auch für die baltischen Partner und die Länder an der Südflanke der Nato. Entsprechend werde man dort „weitere Fähigkeiten bereitstellen, auch wir als Bundesrepublik Deutschland, um jeden Winkel unseres gemeinsamen Bündnisses im Zweifel verteidigen zu können“, sagte Baerbock.
In der Nato-Russland-Grundakte hatte sich die Nato auch verpflichtet, auf die dauerhafte Stationierung „substanzieller Kampftruppen“ im östlichen Bündnisgebiet zu verzichten. Aus Sicht des Bündnisses wurde diese Verpflichtung allerdings ganz klar an die Bedingung geknüpft, dass sich das damals positive Sicherheitsumfeld nicht verschlechtert.

Die Nato-Russland-Grundakte habe Moskau einseitig gebrochen, so der Vorwurf. Bemerkenswert ist, dass hier auch der umgekehrte Fall beschrieben wird, der offenbar keinen Verstoß darstellt. Denn die Verpflichtung, keine Nato-Kampftruppen dauerhaft zu stationieren, ist eingeschränkt. Sie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich das positive Sicherheitsumfeld nicht verschlechtert. Das bedeutet konkret, dass sich die Nato nicht an die vereinbarten Bedingungen mit Russland halten muss, wenn sie selbst subjektiv zu der Auffassung gelangt, dass sich das Sicherheitsumfeld verschlechtert hat. Das dauerhafte Stationierungsverbot wurde ohnehin schon dadurch unterlaufen, dass man die Einheiten der Nato-Streitkräfte nach einer gewissen Zeit einfach auswechselte und behauptete, das sei dann eben, trotz der durchgängigen militärischen Präsenz, keine dauerhafte Stationierung derselben Truppen.

Die Interessen zählen

Bei einem neutralen Blick könnte sich der Westen seine moralische Empörung, die er jetzt zur Schau trägt, also sparen. So wie die Nato das Sicherheitsumfeld offenbar einseitig definieren darf, könnte das Russland für sich ja schließlich auch tun und entsprechend reagieren, wenn es eine Bedrohung feststellt. Wahrscheinlich sind die Atomraketen an die Grenze Finnlands schon unterwegs. Und noch etwas anderes fällt auf. Die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato steht plötzlich auf der Tagesordnung. Damit ist aus Sicht Russlands der Beweis erbracht, dass den Lippenbekenntnissen des Westens nicht zu trauen ist. Als Kanzler Olaf Scholz in Moskau war, witzelte er an die Adresse Putins, dass der Nato-Beitritt der Ukraine nicht auf der Tagesordnung stünde und im Laufe seiner und wahrscheinlich auch der Amtszeit Putins nicht mehr zur Debatte stehen werde. Er insinuierte damit, dass ein Abkommen, das Russland immer wieder vergebens eingefordert hatte, gar nicht erforderlich und damit legitim sei.

Wenn es nun doch zu so einem Abkommen mit einer neutralen Ukraine kommen sollte, der Weg dahin ist noch lang und keinesfalls sicher, wäre er teuer und auf brutale Weise erkauft. Der Westen hätte das aber verhindern können. Es sei eine „Sünde amerikanischer Politik“ gewesen, nicht verhandelt zu haben, sagte Klaus von Dohnanyi neulich bei Maischberger. Dafür gibt es mindestens einen Empörungssturm auf Twitter. Doch Fakt ist, die Amerikaner waren die einzigen, die vor einem Einmarsch in die Ukraine permanent warnten, sie hatten sich nur beim Datum mehrfach geirrt. Doch eine Initiative zur Vermeidung des Krieges gab es nicht, außer Gespräche diverser Staatschefs mit Putin, die ihm unter Androhung von roten Linien klarmachten, dass über seine Forderung gar nicht erst verhandelt wird.

Schließlich sei man auf alles vorbereitet und der Kreml-Chef werde beim Überschreiten der roten Linien einen hohen Preis zahlen. Dieser hohe Preis sind Menschenleben, die aber der Westen genauso bereitwillig zu opfern bereit ist. Nichts anderes steckt ja in den albernen Forderungen, Russland zu zerschlagen oder zu ruinieren, es militärisch zur Aufgabe zu zwingen, den Donbass und die Krim zurückzuerobern oder gar einen Sturz Putins zu organisieren. Glaubt man den aktuellen Verlautbarungen habe Russland den Krieg ja schon verloren, nur sagt es dem Putin niemand. In der Sackgasse befinden sich aber beide Seiten. Die europäische Einigkeit bröckelt. Das Embargo auf Öl aus Russland ist immer noch nicht beschlossen. Nun verlangt Ungarn für seine Zustimmung 15 bis 18 Milliarden Euro als Kompensation. Auch darüber kann man sich jetzt wieder empören oder einfach zur Kenntnis nehmen, dass es eben nicht um Moral oder Gut und Böse geht, sondern um Interessen. Deshalb war die Ostpolitik, die man gerade mit einer gewissen Genugtuung in die Tonne getreten hat, so wichtig.


Bildnachweis: Screenshot, Live-Übertragung PK Nato-Außenministertreffen, 15. Mai 2022.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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