Chefsachen

Geschrieben von: am 22. Jul 2022 um 10:15

Die Sanktionen wirken: Seit Donnerstagmorgen fließt kein Gold, sondern lediglich Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Aus dem über Tage herbei geschriebenen Gaslieferstopp wird vorerst nichts, was zahlreiche Medien enttäuscht. Sie hatten sich wohl mehr vom Bösewicht im Kreml erhofft. Nun heißt es, die Auslastung der Pipeline sei gering. Nur 40 Prozent, also das Niveau von vor der Wartung, als bereits eine nur „vorgeschobene“ Turbine fehlte. Die ist inzwischen aber auf den Weg nach Russland. Da nicht mit Amazon geliefert wird, dauert es wohl etwas länger. Derweil folgen die nächsten seltsamen Sparaufrufe eines Ministers im Isolationsstand und die Hauptstadtpresse fordert gar, Gassparen müsse nun Chefsache werden. Wieso eigentlich nicht die Gasbeschaffung?

Denn sogar Außenministerin Annalena Baerbock hat dazugelernt. Sie will nicht mehr kein Gas aus Russland, wie noch vor Wochen angekündigt, sondern weiterhin Gas aus Russland, weil es sonst zu Volksaufständen käme und man der Ukraine dann gar nicht mehr helfen könne.

Die Kanadier haben gesagt, ‚wir haben viele Fragen‘, da haben wir gesagt, ,das können wir verstehen, aber wenn wir die Gasturbine nicht bekommen, dann bekommen wir kein Gas mehr, und dann können wir überhaupt keine Unterstützung für die Ukraine mehr leisten, weil wir dann mit Volksaufständen beschäftigt sind.

Da hat sich also jemand um die Beschaffung und nicht um Einsparungen nach dem Motto „Frieren für die Ukraine“ Gedanken gemacht. Diese zunächst verbreitete Strategie, die bislang lediglich auf Twitter funktioniert, könnte im wahren Leben wohl nach hinten losgehen. Dies zu erkennen, ist löblich. Allerdings verfällt die Außenministerin dann wieder in Merkwürdigkeiten.

Das ist unsere wichtige Aufgabe für den Winter, wir müssen dafür sorgen, dass dieser Krieg nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft führt. […] Auftrag der Bundesregierung ist es, die sozialen Kompetenzen abzufedern.

Ja, da ist wieder so ein Koboldscher Versprecher, geschenkt, aber warum soll der Krieg zu einer Spaltung der Gesellschaft führen, wenn es doch die Sanktionen sind, die nicht funktionieren und eine deutsche Außenministerin sogar der kanadischen Regierung mit „überspitzt“ formulierten Szenarien erklären muss, wie wichtig so eine Gasturbine für die innere Sicherheit Deutschlands ist? Aber auch dafür gibt es natürlich eine Ausrede, pardon, Erklärung.

In der Tat nutzt Russland seine große Macht – eine zu große Macht, die wir Russland gegeben haben -, um Europa und Deutschland zu erpressen und erweist sich jeden Tag als unsicherer Kantonist der Energieversorgung in Europa.

So der Wirtschaftsminister. Technische Fragen würden zunehmend politisiert, beklagt er sich. Die Lacher darüber muss man übrigens nicht einspielen. Habeck habe das Gefühl, dass Russland die Gasturbine gar nicht zurücknehmen wolle. Außerdem wisse man, dass es ja genug Turbinen gebe. Das ist bei Brennstäben für Atomkraftwerke vermutlich auch so. Aber Moment, kein Grund für vorschnelle Häme, denn Atomkraftwerke fallen gerade reihenweise aus. So mussten deutsche Gaskraftwerke mehr Strom für Frankreich produzieren, was sich auf die Füllstände in den Speichern natürlich auswirkte. Das ist die Pointe.

Da hilft es auch nicht, Gaskraftwerke nun durch Kohlekraftwerke zu ersetzen, denn auch dieser Rohstoff ist knapp und teuer. Sogar den Polen, deren Gasspeicher dank Deutschland wiederum gut gefüllt sind, geht die Kohle aus.

Polen wird bald eine Versorgungslücke von bis zu 4,5 Millionen Tonnen Kohle verzeichnen, während die Länder Europas insgesamt, Berichten zufolge, auf der Suche nach 50 Millionen zusätzlichen Tonnen sind.

Das heißt, es fehlt künftig nicht nur Gas, um die privaten Pools zu beheizen, die, wer kennt sie nicht, zuhauf in den Wohnblocks von Zwickau-Neuplanitz zu finden sind, sondern auch der bezahlbare Strom für alles andere, Wärmepumpen zum Beispiel oder für die komischen Ladesäulen von E-Autos. Statt von Erpressung durch Putin zu reden, könnte man auch die Dummheit einer westdeutschen Mittelschicht ansprechen, die Verteilungskämpfe zur moralischen Erbauung führt, und sich dann über drastische Wählerwanderungen echauffiert.

Dem Petrolchemischen Kombinat (PCK) in Schwedt an der Oder das russische Erdöl abzudrehen ist eine Entscheidung von Politikern, die Eingriffe in die Marktwirtschaft ansonsten als Sakrileg ablehnen, vor allem, wenn es um die Verhinderung sozialer Verwerfungen geht. Wie es der Raffinerie ergehen wird, sobald sie Verluste schreibt, wissen Ostdeutsche inzwischen allerdings aus eigenem Erleben. Sie kaufen den Politikdarstellern die Alternativlosigkeit verheerender Maßnahmen nicht mehr einfach so ab. Und die EU-Sanktionen gegen Russland schließen das Öl aus der Druschba-Pipeline ja nicht einmal ein, der Verzicht darauf ist ein deutscher Sonderweg.

Einen Sonderweg geht auch Ungarns Premier Viktor Orbán, der genau wie Annalena Baerbock erkannt hat, dass Russland für die Energieversorgung Europas nun einmal nicht ersetzbar ist. Nur erklärt Ungarn das nicht den Kanadiern oder der Berliner Redaktion des RND in Hannover, sondern den zuständigen Stellen in Moskau, was wahrscheinlich wieder einen Shitstorm in deutschen Postillen geben wird. So ist das aber leider in dieser Welt oder wie Volker Pispers sinngemäß einmal scherzte, was der Herrgott sich dabei wohl gedacht habe, unser Öl und unser Gas bei den bösen Arabern und den bösen Russen zu verbuddeln. „Macht Sie das nicht stutzig, dass Sie vielleicht vor dem falschen Altar herumrutschen?“


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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Jörg Wiedmann  Juli 22, 2022

    Ich verstehe die ganze Aufregung um Frau Baerbock und Herrn Habeck nicht.
    Sie liefern genau das, was von Ihnen zu erwarten war.
    Jede Menge heiße Luft und wohlfeine Reden ohne jeden Bezug zur Realität.
    Eigentlich ist die jetztige Situation genauso wie die Grünen es sich schon immer gewünscht haben.
    Weg von den bösen fossilen Energieträgern die zu jeder Zeit verfügbar sind, auch nachts wenn die Sonne nicht scheint und an Tagen an welchen der Wind nicht weht.
    Ist halt nicht angenehm wenn einem seine Utopien jetzt krachend vor die Füße fallen.
    Hätte man aber wissen und beim Wählen berücksichtigen können.

  2. Rauschi  Juli 25, 2022

    Gestern im Presseclub war die Aussage, das die Sanktionen wohl nicht kurz und auch nicht mittelfristig wirken, aber sicher langfristig.
    Klar, bis dahin ist dann die EU Wirtschaft ruiniert und niemand kann niemandem mit irgendwem helfen, weder bei Verhandlungen noch beim Krieg führen.
    Wie irre wird das noch, bevor auch die Mainstreampresse das mitbekommt?