Die richtigen Lücken schließen

Geschrieben von: am 17. Feb 2022 um 8:55

Das Erheben von Daten und deren Auswertung hat während der gesamten Coronazeit nicht sonderlich gut geklappt. Zudem interpretieren die politisch Verantwortlichen das, was an Material vorliegt, gekonnt falsch. Es wird zum Beispiel über Impflücken geklagt, obwohl der konkrete Impfstatus der Bevölkerung weiterhin unbekannt ist oder davon abhängig, was auf den Fluren des RKI oder des PEI zur Gültigkeit eines Impfschemas entschieden wird. Hinzu kommt die Zahl der Genesenen, die konsequent ausgeblendet werden, obwohl sie zur Grundimmunität der Population entscheidend beitragen. Unter diesen Bedingungen ist eine konstatierte Impflücke vollkommen nichtssagend mit Blick auf die eigentlich relevante Immunitätslücke, die es zu ermitteln gilt. Nach einer Durchseuchung, wie sie im Augenblick stattfindet, verändert sich die Lage ja fundamental.

Der Bund und die Ministerpräsidenten haben sich gestern darauf verständigt, so eine Art Lockerung in drei Schritten zu vollziehen, wobei am Ende weiterhin sogenannte „niedrigschwellige Basisschutzmaßnahmen“ stehen sollen, die sich von dem kaum unterscheiden, was jetzt schon gilt. Ob sich dieser Euphemismus politisch durchhalten lässt, wird sich zeigen. Die Wortschöpfung ist jedenfalls ein weiterer Kandidat für das Wörterbuch des Corona-Neusprechs, das über eine Sprache Auskunft gibt, mit der die Dinge gezielt verschleiert werden sollen. In diesem Fall geht es um die allgemeine Verharmlosung von behördlich angeordneten Grundrechtseinschränkungen. Niemand hätte ein Problem damit, wenn das Maskentragen oder Abstandhalten empfohlen würde, es aber als ordnungsrechtliche Pflicht festzuschreiben, bleibt ein staatlicher Ein- und Übergriff, der einer nachvollziehbaren Begründung bedarf. Dass darüber hinaus auch eine Pflicht zum Mitführen von Impf-, Genesenen- oder Testzertifikaten verankert werden soll, spricht ebenfalls für das anhaltende Misstrauen des Staates der Bevölkerung gegenüber.

Die vorgeschlagenen Regelungen ergeben sich allerdings auch aus der Logik des eingeschlagenen Weges, der die politisch Handelnden in eine Sackgasse geführt hat. Die Impfpflicht soll nun im Herbst kommen, dafür braucht es ja so etwas wie eine Ausweispflicht, um ordnungsrechtliche Kontrollen vornehmen und ggf. Verstöße feststellen zu können. Bislang ist nämlich noch vollkommen unklar, wie ein Vollzug von Impfpflichtgesetzen aussehen könnte. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht mit ihrer Stichtagsregelung zum 15. März wird deshalb mit einer großen Blamage starten. Im Bund-Länder-Beschluss steht: „Die Gesundheitsämter haben ein Ermessen bei der Umsetzung der Maßnahmen. Ein Betretungsverbot stellt die letzte Stufe dar. Daher wird es nicht sofort flächendeckend automatisch zu derartigen Betretungsverboten kommen. Bei Bußgeldverfahren gilt das Opportunitätsprinzip.“ Die Stichtagsregelung ist damit de facto einkassiert. Protokollerklärungen einzelner Länder zeigen zudem, das trotz einer Handreichung des Bundesgesundheitsministeriums weiterhin große Unklarheit und Verunsicherung bei der Umsetzung besteht. Von einer Lösung der Streitfrage kann daher keine Rede sein.

Gleichzeitig bleibt die Frage, welches Ziel mit einer Impfpflicht erreicht werden soll, unbeantwortet. Die Behauptung eines Fremdschutzes ist angesichts der impfunabhängigen Übertragbarkeit mittlerweile unhaltbar, aber selbst wenn sie zuträfe, muss die Politik genau darlegen, wie viele Impfungen notwendig sind, um einen schweren Verlauf oder Todesfall bei Dritten zu verhindern (number needed to treat, NNT, vgl. u.a. Stellungnahme Deutscher Ethikrat, 27. Juni 2021). Das ergibt sich kurioserweise auch aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgericht zu Eilanträgen gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Darin stellen die Richter nämlich fest, dass Impfungen ein persönliches Risiko darstellen können, mit Folgen bis hin zum Tod. Das sei anzuerkennen, aber bei der zunächst vorgenommenen Folgenabwägung nicht relevant, da die Betroffenen in den Bereichen, in denen eine Impfpflicht gilt, nicht arbeiten müssten, sie also eine Alternative hätten, dieser Vorgabe zu entgehen. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass der Staat bei der Bewertung einer allgemeinen Impfpflicht konkret darlegen müsste, welchen zählbaren Nutzen es mit ihr gibt. Es sei denn, das Bundesverfassungsgericht hält das Auswandern oder empfindliche Bußgelder für eine vertretbare Alternative, um der Impfpflicht-Vorgabe zu entgehen.

Die Impfpflicht ist aber auch deshalb fragwürdig, da der Immunitätsstatus nicht allein durch Impfung, sondern zunehmend auch durch Infektion und Reinfektion an Breite gewinnt. Es ist daher ein wenig irrational, unbedingt annehmen zu wollen, dass eine neue Virusvariante im Herbst zu erneuten ernsthaften Problemen bei der Krankheitslast führen wird. Ausschließen lässt sich so etwas freilich nicht, aber plausibel ist das aus heutiger Sicht eindeutig nicht. Statt die kostbare Zeit des Frühjahrs und des Sommers mit einer sinnlosen Impfpflicht-Debatte zu vergeuden, wäre es daher allemal empfehlenswert, endlich eine solide Datengrundlage zu schaffen und anhand von Stichproben herauszufinden, wie hoch der Immunitätsstatus der Bevölkerung tatsächlich ist. Das würde auch dabei helfen, die Lage angemessen einzuschätzen, jedenfalls besser, als das hohle Gequatsche von Politikern nahelegt, die bis heute nicht wissen, was war, ist oder kommen wird und daher immer vom schlimmsten aller Fälle ausgehen müssen. Diese Art der Krisenbewältigung ist schlichtweg inakzeptabel und darf nicht einfach fortgesetzt werden. Aber genau das deutet der Beschluss von Bund und Ländern an.


Bildnachweis: Willfried Wende auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Rudi Knoth  Februar 19, 2022

    Danke für diesen Text. Gerade die Zahl der Infizierten und damit „Genesenden“ wird in der Betrachtung der Immunität vollkommen ausgeblendet. Und diese Zahl beträgt jetzt 13,5 Millionen. Eventuell ist diese Zahl niedriger als die tatsächlich infizierten Menschen, die in Kontakt mit diesem Virus waren. Denn gerade die Omikron-Variante soll ja milde Verläufe haben.