Die dunkle Seite der Macht

Geschrieben von: am 26. Sep 2020 um 20:37

Jeder kennt die AHA-Regel. Abstand, Hygiene, Alltagsmaske. Sie ist der Garant dafür, dass sich das Coronavirus nicht weiter ausbreitet. Die Reihenfolge ist übrigens auch bewusst nach Wichtigkeit gewählt. Am stärksten wirken Abstand und Hygiene, am schlechtesten die Maske, die immer nur als zusätzlicher Schutz gedacht war. Ihre Bedeutung nimmt aber zu, je mehr die anderen beiden Vorgaben gelockert werden, was der Fall ist, da es weniger Kontaktbeschränkungen gibt und beim Händewaschen sowieso niemand hinschaut. Sich nun aber nur auf die Maske zu fokussieren, ist falsch, weil sie eben immer noch am schlechtesten wirkt. Genehm ist das den Regierenden trotzdem, da sie so keine Antwort darauf geben müssen, wie es gelingen kann, Risikogruppen besser zu schützen. Dafür müsste man Grundüberzeugungen des neoliberalen Denkens endlich beerdigen und zu einem wirklich solidarischen und damit nachhaltigen Politikkonzept zurückkehren.

Wie immer lohnt ein Blick nach Niedersachsen. Das Land wird von Stephan Weil regiert. Er steht einer Großen Koalition aus SPD und CDU vor, die gerade eine Informationskampagne (richtiger: Imagekampagne) gestartet hat. Sie heißt, „Wir sind stärker! Niedersachsen gegen Corona“ und ist unter anderem hier zu finden. Zu sehen gibt es eine Menge Postgrafiken, also Bilder mit Sprüchen drauf, die man ausdrücklich teilen darf, um sein Umfeld aufzuklären bzw. das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Interessant daran ist die Ausrichtung. AHA heißt jetzt AHM, also „Abstand halten. Hände waschen. Maske tragen.“ Vermutlich, weil der Bund die Rechte an ersterem besitzt und die niedersächsische Merkel mal etwas pfiffiger um die Ecke kommen möchte. Möglicherweise will die beauftragte Werbeagentur auch nur ihr Honorar rechtfertigen. Egal.

Nur ein Geplänkel

Stephan Weil taucht auch in einem Video zur Kampagne auf. Er hält ein Plakat in der Hand. Darauf ist ein Kind abgebildet, das einen Darth Vader Helm trägt und dabei einen Einkaufswagen schiebt. Es dreht sich also um die Maske und nicht um Kultur, die zu fördern, ja eine durchaus sinnvolle Aufgabe in dieser Zeit sein könnte. Der Ministerpräsident geht stattdessen lieber der Frage nach, ob man die Maske denn noch benötige. Die Frage ist aus Sicht des niedersächsischen Regierungschefs natürlich rhetorischer Natur. Die Infektionszahlen, das Maß aller Dinge, steigen ja.

Unter dem Video steht deshalb noch einmal zusammengefasst:

Klare Worte von Ministerpräsident Stephan Weil zur Kampagne: „Die Maske ist und bleibt eines der wichtigsten Instrumente für den Infektionsschutz.“

Genau das ist aber Unsinn. Die Maske ist eben nicht eines der wichtigsten Instrumente, wie seit Beginn der Maskenpflicht immer wieder betont worden ist. Selbst der niedersächsische Ministerpräsident hat das bei seiner Kehrtwende hin zur Maskenpflicht betont.

„Entscheidend bleibt aber: der Infektionsschutz durch Alltagsmasken ist sinnvoll, damit andere Menschen nicht angesteckt werden können. Ich bitte aber alle Bürgerinnen und Bürger, nicht zu hohe Erwartungen an Mund-Nase-Bedeckungen zu knüpfen. Am wichtigsten ist und bleibt eine strikte Einhaltung von Abstandsregeln und Hygienevorschriften.“

Quelle: NDR

Viel wichtiger sind Abstände und Hygiene. Das gilt auch heute noch. Doch wie lassen sich Abstände in überfüllten Bussen und Stadtbahnen einhalten und wie sieht es in Klassenräumen mit bis zu 30 Schülern aus? Das Virus passt eben nicht zur kaputt gesparten Infrastruktur in den Kommunen, zu einer desaströsen Bildungslandschaft in den Ländern und zu der neoliberalen Gedankenwelt in den Betonköpfen von Bundes- und Landespolitikern. Die Maske passt dagegen schon. Sie ist billig, leicht zu handhaben und verdeckt auch hässliche Gesichter.

Die Fratze schlechthin ist der Neoliberalismus. Übersetzt: Der Angriffsplan der Reichen bei ihrem Krieg gegen die Armen. Ihre Waffen sind Schwarze Null und Schuldenbremse, das wissen die Leser dieses Blogs zur Genüge. Der Streit um die Maske, über die der Ministerpräsident Niedersachsens gewohnt volksnah menschelnd philosophiert, ist nur ein Geplänkel. Aber ein nützliches Geplänkel, das den Klassenkampf im Armenhaus am Köcheln hält, um zu verhindern, dass sich der Volkszorn gegen die Reichen richtet. Gegen Leute wie die Quandts und Klattens zum Beispiel, die gerade eben noch über 700 Millionen Euro Dividende eingestrichen haben, während die Konzernspitze von BMW für die Belegschaft Kurzarbeitergeld beantragt hat.

Noch schnell ein paar Tablets und Laptops verteilen

Was bleibt da für die Armen? Sie werden unter anderem mit ein paar Tablets und Laptops ruhiggestellt. Bund zahlt 500 Millionen Euro Schul-Hilfsgeld, lautet eine Schlagzeile in dieser Woche. Da das Virus eben nicht zum neoliberalen Dogma der engen und sparsamen Verhältnisse passt und es aus diesem Grund sehr wahrscheinlich ist, dass der Unterricht aus Gründen des Infektionsschutzes noch häufiger zu Hause stattfinden muss, braucht auch die Lockdown-Elite im Reihenhäuschen mit Garten das Gefühl, dass den Bedürftigen ganz unten geholfen wird. Der Anschein von Sozialstaat ist wichtig, um zu verhindern, dass die Familie mit Grundstück auf dem Lande erkennt, mit der Alleinerziehenden in der großstädtischen Plattenbauwohnung doch sehr viel mehr gemeinsame Interessen zu teilen.

Ein „Sofortausstattungsprogramm“ über eine halbe Milliarde Euro für alle Schulen des Landes ist immer noch weniger, als Susanne Klatten und ihr Bruder Stefan Quandt an Dividende in diesem Jahr bekommen haben. Wieso erinnert die Landesregierung nicht an diese ungerechte, geradezu obszöne Verteilung? „Vermögen in Deutschland viel ungleicher verteilt als bisher angenommen“, schrieb der Spiegel im Juli unter Berufung auf eine Kurzstudie des DIW. Das ist schon wieder vergessen, war es damals übrigens auch, denn das DIW hatte bereits 2012 auf das Problem hingewiesen, wie Jens Berger auf den NachDenkSeiten schreibt. Der Krieg Reich gegen Arm, er ist bittere Realität und dauert schon lang. Corona hat daran nichts geändert. Im Gegenteil. Die Tilgungspläne für die Schulden stehen bereits fest. So werden zwar Tablets und Laptops verteilt, nicht aber das Personal eingestellt, das nötig wäre, um die technische Infrastruktur aufzubauen und dauerhaft zu pflegen.

Das Konjunkturprogramm für Apple und Co. sind ja gute investive Ausgaben, Löhne und Gehälter für Mitarbeiter in der Verwaltung schlechte konsumtive Ausgaben. Im Öffentlichen Dienst wird übrigens in den nächsten Tagen weiter gestreikt. Dafür gibt es diesmal aber keinen Applaus. Auch hier ist man wieder zum Klassenkampf im Armenhaus zurückgekehrt. Die alleinerziehende Mutter wird gefragt, wie schlimm sie es findet, ihr Kind nicht mehr in die Krippe geben zu können, weil die Erzieherinnen streiken. Oder ob sie bereit ist, tiefer für das Gehalt des Stadtmitarbeiters in die eigene Tasche zu greifen. Sie sollte auf solche idiotischen Fragen der Kollegen empörend antworten. Nehmt es endlich von den Klattens und den Quandts.

Vielfach weiterhin Fehlanzeige

Ist sich der Ministerpräsident Niedersachsens des Problems bewusst, wenn er die Losung verbreitet, „Wir sind stärker! Niedersachsen gegen Corona“? Oder ist er einfach nur ein wenig zynisch, weil er sich als Sozialdemokrat wie ein Büttel der Reichen verhält. Er könne sich auch etwas Schöneres vorstellen, als eine Maske zu tragen, aber es sei nun einmal notwendig, da sie ein ganz wesentliches Instrument des Infektionsschutzes bleibe. Aber was ist nun mit dem Neoliberalismus, lieber Sozi? Was ist mit kleineren Klassen in den Schulen, die schon seit Jahrzehnten gefordert werden? Wie geht denn das mit der Chancengerechtigkeit im Homeschooling, wenn das eigene Zimmer fehlt oder der öffentliche Spielplatz einfach mal geschlossen wird? Könnte man nicht den öffentlichen Nahverkehr wieder ausbauen, statt ihn wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit auszudünnen? Was ist mit besseren Arbeitsbedingungen sowie Gehältern für das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altenheimen? Was ist eigentlich aus den Bemühungen geworden, etwas gegen den Pflegenotstand zu tun, den es vor Ausbruch der Corona-Pandemie noch gab? Vielfach Fehlanzeige. Das alles sind gerade keine wesentlichen Instrumente des Infektionsschutzes. Übrigens war es die Maske im März auch nicht, weil sie zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht verfügbar war und die Gesundheitsminister es versäumt hatten, ausreichend Vorräte anzulegen.

„Und natürlich werden wir nicht müde, immer wieder das richtige Verhalten anzusprechen“, heißt es nun auf der Kampagnenseite der Landesregierung. Wird denn inzwischen ein Gesundheitssystem überdacht, in dem die Belegung von Krankenhausbetten Geld einbringen muss und es daher wirtschaftlich ist, kranke alte Menschen so schnell wie möglich in die Pflegeheime zurückzuschicken? Wie wäre es da mit einer Verhaltensänderung? Könnte man die Risikogruppen nicht viel mehr schützen, wenn weniger Buchhalter das Sagen hätten? Stattdessen ist bereits die Empfehlung, nein die Forderung zu vernehmen, den Gürtel wieder etwas enger zu schnallen, da Corona schließlich Milliardenlöcher in den kommunalen Haushalten hinterlassen hat. Das heißt im Klartext, öffentliche Leistungen, die dringend mehr Platz benötigen, Corona hat es eindrücklich gezeigt, wären weiter einzuschränken. Zum Glück gibt es jetzt die Maske und zudem Sozialdemokraten, die kein Problem damit haben, für einen neuen Dresscode mit der dunklen Seite der Macht zu kokettieren.


Bildnachweis: Nds. Staatskanzlei. Alle Details zur Lizenz finden Sie unter dem folgenden Link.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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