Die Bundesregierung sorgt sich um die Lage in Ägypten

Geschrieben von: am 03. Feb 2011 um 16:21

Die Bundeskanzlerin hat zusammen mit anderen europäischen Regierungschefs einen gemeinsamen Appell an die Adresse der ägyptischen Führung gerichtet. Darin heißt es:

„Wir beobachten mit größter Sorge, dass sich die Lage in Ägypten verschlechtert. Es muss den Ägyptern frei stehen, ihr Recht auf Versammlungsfreiheit auszuüben. Die Sicherheitskräfte müssen sie dabei schützen.

Quelle: Bundesregierung

Dabei hieß es zum Thema Demonstrationsfreiheit vom Regierungsmitglied Thomas de Maizière (CDU) kürzlich noch:

„Wenn tausende 13-jährige Schüler von ihren begüterten Eltern Krankschreibungen kriegen, um zu demonstrieren, dann ist das ein Missbrauch des Demonstrationsrechts.“

Quelle: Tagesspiegel

Aber das war ja bekanntlich ein anderer Film. Oder doch nicht? Albrecht Müller zieht auf den NachDenkSeiten einen brisanten Vergleich. „In der Dimension verschieden, in den Methoden auffallend ähnlich: Mubarak und Mappus“

Die Parallelen sind größer, als manche bei uns denken und verlautbaren. Anders als in den Klageliedern über den Mangel an Demokratie in Ägypten und dem spiegelbildlichen Schulterklopfen, was für tolle Demokraten wir hier sind, sieht die Realität aus: Wo wird denn hierzulande noch ernsthaft Rücksicht genommen auf den Willen des Volkes? Die Mehrheit möchte einen Mindestlohn. Die Mehrheit ist gegen die Rente mit 67. Die Mehrheit hätte es verdient, dass die Löhne steigen und nicht nur die Gewinner und die Vermögenseinkommen. Die Mehrheit möchte gerne, dass unsere Jugend sichere Arbeitsplätze und eine gute Ausbildung bekommt. Und dennoch setzen die Eliten seit über 20 Jahren auf eine Wirtschaftsentwicklung unter unseren Kapazitäten und auf eine Reservearmee an Arbeitslosen.

Nach dem Willen der Mehrheit geht es hierzulande über weite Strecken nicht. Noch schlimmer: die Meinungsführer in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft loben jene politisch Verantwortlichen, die Entscheidung gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen, als besonders tugendhaft. Müntefering wurde für sein Lebenswerk, die Erhöhung des Renteneintrittsalters gelobt, Schröder für die Agenda 2010, Angela Merkel für ihr stures Pochen auf Exportüberschüsse, Clement für seine Weichenstellungen zu Gunsten von Leiharbeit und anderen prekären Arbeitsverhältnissen; Steinbrück und Schäuble für ihre Sparmaßnahmen zulasten der Menschen, die auf öffentliche Güter angewiesen sind.

Die Mehrheit der Medien hat kräftig applaudiert. Deshalb ist ihre Forderung nach mehr Demokratie in der arabischen Welt ziemlich hohl. Sie wäre glaubwürdig, wenn die Medien endlich auch in Deutschland entdecken würden, dass nicht nur die Bedürfnisse der Oberschicht und einer viel beschworenen angeblichen Mittelschicht von politischem Interesse sind.

Das ist harter Tobak, allerdings muss man sich auch klarmachen, weshalb die Menschen in Ägypten, Tunesien und demnächst auch in anderen Staaten auf die Straße gehen. Sie haben ihre Regierungen einfach satt, die nicht nur demokratische Verhältnisse unterdrücken, sondern auch Gewalt gegen die eigene Bevölkerung ausüben bzw. gegen den Willen des Volkes handeln und eine Verbesserung der Lebensbedingungen systematisch verhindern. So abwegig ist der Vergleich von Müller also nicht.

Allerdings weiß ich auch nicht genug über die Proteste im nahen Osten oder genauer in Nord-Afrika. Ich fühle mich da schlecht informiert. Schlecht zu informieren, wurde kürzlich auch den öffentliche rechtlichen Medien vorgeworfen. Nun wehrt sich der Chefredakteur von ARD-Aktuell Kai Gniffke. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur stellt er klar:

Kai Gniffke, der Chefredakteur von ARD-aktuell, hat eingeräumt, dass die Frage der Menschenrechte in der Ägypten-Berichterstattung in der Vergangenheit zu kurz gekommen ist. In den letzten zehn, 20 Jahren sei die Tatsache nicht hinreichend gewürdigt worden, dass in Ägypten Ausnahmerecht herrsche, sagte er.

Wenn Mubarak auf Staatsbesuch in Deutschland gewesen sei oder deutsche Politiker in Ägypten, sei das Thema Menschenrechte von den Medien nicht angesprochen worden, kritisierte der ARD-Journalist: „Und im Nachhinein finde ich, dieser Reflex, den wir sonst bei China, bei Iran etwa haben, der hätte uns auch da gut zu Gesicht gestanden.“

Zu dem Vorwurf, die ARD berichte nicht genug in Sondersendungen über die Ereignisse in Ägypten, sagte Gniffke, er könne keine großen Lücken in der Berichterstattung erkennen. Schließlich sei die ARD kein Nachrichtenkanal, sondern ein Vollprogramm. „Sollten sich die Ereignisse weiter zuspitzen – klar wird man noch zusätzliche Ausgaben ins Programm nehmen, aber gestern, fand ich, sahen wir ehrlich gesagt, ganz gut aus.“

Über diesen journalistischen Tiefflieger könnte ich mich kaputtlachen. Hoppla, in Ägypten herrscht ja schon seit 20 Jahren Ausnahmezustand. Entschuldigung, dass haben wir leider übersehen. Was für ein Armutszeugnis. Noch schlimmer finde ich allerdings, dass Gniffke von einem „Reflex“ spricht, den Journalisten wie er sonst bei China und Iran problemlos zuließen. Das sagt viel über die geistige Haltung und Arbeitsauffassung eines Herrn Gniffke. Statt Recherche und Analyse braucht’s also mehr Reflexe. Ich denke nicht!

Ich erinnere nur an Gniffkes Kommentar in den Tagesthemen zum Thema Thüringen-Wahl im Oktober 2009. Da ist mir dieser öffentlich-rechtliche Totalausfall das erste Mal unangenehm aufgefallen. Damals hat Christoph Matschie eine mögliche und von den Thüringern gewählte linke Mehrheit im Landtag verhindert, weil er keinen linken Ministerpräsidenten wählen wollte. Stattdessen ist er lieber als Juniorpartner in eine sog. große Koalition (Die SPD ist nur drittstärkste Kraft geworden) eingetreten. Gniffke verteidigte die Entscheidung Matschies, in dem er seinem „Reflex“ gegen die Linkspartei freien Lauf ließ.

Thema war die SPD und im Einzelnen das Verhalten von Christoph Matschie in Thüringen, welches der Chefredakteur verteidigte. Matschie hätte recht mit seiner Entscheidung, nicht den einfacheren Weg zu rot-rot zu gehen. Matschie tue es für das Land, weil nicht die SPD ihr Verhältnis zur Linkspartei, sondern umgekehrt die Linke ihr Verhältnis zur SPD ändern müsse. Und jetzt kommt’s. Die Linke müssse sich entscheiden, ob sie an der Seite einer selbstbewussten SPD verantwortliche Politik machen will oder weiter dem Populismus frönen möchte. Da habe ich das erste Mal gelacht und gleichzeitig mit dem Kopf geschüttelt, da dem Chefredakteur offensichtlich die realen Kräfteverhältnisse in Thüringen aus dem Hirn gefallen sind.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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