Gefühlte Realität

Geschrieben von: am 14. Sep 2016 um 11:56

160914-breaking-newsDie besorgten Bürger glauben nicht, was in der Lügenpresse steht, aber sie glauben, was in der Lügenpresse steht. Es müssen halt nur die Schlagzeilen zur gefühlten Realität passen. Schlagzeilen wie diese hier, dass Flüchtlinge mit anerkanntem Aufenthaltsstatus Urlaub im Heimatland machen. Oh Gott oh oh Gott. Die CSU macht die Meldung zum Thema einer Kabinettssitzung, spricht von dreistem Missbrauch unserer sozialen Sicherungssysteme und verlangt, natürlich, mehr Ausweisungen.

Das Bild der Bild zeigt einen Flüchtlingsstrom von, sagen wir mal, einigen hundert Menschen, nein, gefühlt tausend Menschen, die nach Europa flüchten. Darunter steht die Schlagzeile „Einige Flüchtlinge machen Urlaub im Herkunftsland“. Wie viele, wissen weder Bild noch Welt am Sonntag und die abschreibenden anderen Medien. Doch besorgte Bürger und CSU Politiker wissen mehr. Es müssen gefühlt viele sein, die auf Kosten des deutschen Sozialstaates leben und in Länder reisen, in denen sie offenbar gar nicht verfolgt werden. Bleibt dann nur die Frage, wie die gefühlte Realität von einer Überfremdung im Land mit der massenhaften Abwesenheit von Flüchtlingen, die gerade oder dauernd auf Urlaub im Heimatland sind, zusammenpasst. Da gibt’s bestimmt eine Erklärung.

Rechtsanspruch ausgehebelt

Nicht zur gefühlten Realität gehört allerdings, dass anerkannte Flüchtlinge einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung haben, der jedoch durch die jüngsten Asylrechtsverschärfungen und das politische Verhalten der Bundesregierung systematisch untergraben wird.

Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht die Problematik: Seit 2011 bis Anfang 2016 wurde nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 230.000 Personen aus Syrien in Deutschland Schutz gewährt (siehe BT-Drucksache 18/7200 + Asylstatistiken des BAMF). Allein in den Jahren 2014 und 2015 wurde 127.000 Syrer*innen Schutz gewährt. Dagegen wurden von Anfang 2014 bis Oktober 2015 nur 18.400 Visa zwecks Familiennachzug von Angehörigen zu schutzberechtigten Flüchtlingen in Deutschland erteilt. […]

Familienangehörige warten überdies viele Monate oder sogar länger als ein Jahr auf ihre Termine bei den deutschen Außenvertretungen in der Türkei, in Jordanien und im Libanon. Allein in Beirut beträgt die Wartezeit auf einen Termin mindestens 14 Monate. Dort gab es Ende Dezember 2015 bereits 6.000 feststehende Termine für Anträge auf Familienzusammenführung für insgesamt ca. 18.000 Personen (siehe BT-Drucksache 18/72000, S.19). Auch für die deutsche Botschaft in der Türkei beträgt die Wartezeit für einen Termin derzeit mindestens 14 Monate.

Kann also durchaus sein, dass hier lebende Flüchtlinge sich anders als so mancher besorgte Bürger oder CSU Politiker mit der Rechtslage vertraut gemacht haben und nun eine Abwesenheitserlaubnis der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen, um in ihre Heimatländer zu gelangen. Aber ist das nun ein Skandal oder eine Lücke im Gesetz, die umgehend geschlossen werden muss, weil der Bürger hierzulande nicht versteht, „wie man Urlaub in einem Land verbringen kann, aus dem man geflohen ist“? Oder sollte vielmehr der oft gebrauchte Spruch gelten, das bestehende Gesetze einfach nur angewendet und Rechte gewährt werden sollten? Vielleicht erübrigen sich ja die wenigen Reisen in ein Bürgerkriegsland, wenn die Familien von anerkannten Flüchtlingen in Sicherheit sind. Doch das ist eher kein Thema bei den Freunden weiterer Asylrechtsverschärfungen.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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