Über die Illusion eines Politikwechsels

Geschrieben von: am 01. Jun 2019 um 23:00

Die große Koalition steht auf der Kippe, weil sich die SPD gerade selbst zerlegt. So lauten die Schlagzeilen vor der geplanten Neuwahl der Fraktionsspitze am kommenden Dienstag. Schaut man auf die jüngsten Umfragen, hieße die neue Große Koalition im Übrigen Grün-Schwarz und Robert Habeck wäre Kanzler. Rot-Rot-Grün hätte als Grün-Rot-Rot plötzlich auch wieder eine hauchdünne Mehrheit, würde aber überhaupt nichts mehr mit einem Linksbündnis gemein haben. Denn sowohl Grüne wie auch Genossen und Genossen bleiben entweder auf dem Pfad der Anpassung oder haben ihn gerade eingeschlagen. Vermutlich ist Forsa deshalb auch so großzügig mit den Optionen. Sie erlauben die Illusion eines Politikwechsels, bei dem alles so bleibt wie es ist.

Angebliche Erfolge

Das Manöver von Andrea Nahles, Fraktion und Partei unter Druck zu setzen, hat zunächst einmal gewirkt. Offen traut sich im Moment niemand, sie herauszufordern, wenngleich die Kritik mit jeder Stunde zunimmt. Pikante Details aus der langen Sitzung des Fraktionsvorstandes und der Fraktion von vergangener Woche machen bereits die Runde. Sie sind wenig schmeichelhaft. Hier soll es aber nicht darum gehen, ob Andrea Nahles abgewählt oder zum Rücktritt gezwungen wird, sondern darum, welche Hauptbotschaft sich hinter dem verbirgt, was öffentlich derzeit verhandelt wird. Denn plötzlich ist wieder von Erfolgen die Rede, die es durch die SPD in dieser Großen Koalition gegeben haben soll.

So finden Nico Fried und Mike Szymanski in der Süddeutschen, dass die SPD in dieser Regierung loslegte mit Gute-Kita-Gesetz, dem Rückkehrrecht in Vollzeit, der Parität bei den Kassenbeiträgen und besseren Bedingungen für Paketzusteller. „alles SPD“, schreiben sie. Leider sind diese Ergebnisse „guter Regierungsarbeit“ nicht beim Wähler angekommen. Der Gedanke, dass es sich vielleicht nicht um gute Regierungsarbeit, sondern lediglich um bewusst inszenierte und formulierte Übertreibungen handeln könnte, wird nicht geprüft. So wird das Gute-Kita-Gesetz von denen, den es zugute kommen soll, regelrecht in der Luft zerrissen. Die Träger der Einrichtungen bezweifeln den Nutzen, war auch in der Süddeutschen zu lesen.

So hilft das Gesetz weder dem Betreuungspersonal, noch den Kindern wirklich. Finanziert wird hauptsächlich das Wahlversprechen der Sozialdemokraten, für Beitragsfreiheit in den Kitas zu sorgen. Das nützt aber nicht viel, wenn sich Betreuungsschlüssel oder Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen kaum verbessern, weil die Mittel viel zu knapp bemessen sind und das Gesetz zudem nur unzureichende Vorgaben macht. Außerdem ist nicht klar, was nach den vier Jahren passiert, wenn der Förderzeitraum endet. Ab 2022 gibt es keine neue Regelung. Dass die SPD dann aber noch einmal ein Wörtchen mitreden könnte, ist mehr als fraglich. Sie hat also ihre Regierungsverantwortung nicht dafür genutzt, etwas nachhaltig zu verbessern, sondern einfach nur schlecht verhandelt.

Gute Regierungsarbeit ist auch nicht beim Rückkehrrecht in Vollzeit (kurz: Brückenteilzeit) gelungen. Diese Regelung ist ein Papiertiger, da sie für die meisten Betroffenen gar nicht greift. Zum Beispiel in Unternehmen mit weniger als 45 Arbeitnehmern. Einschränkungen gibt es auch in Betrieben bis 200 Mitarbeitern. Laut Auskunft der Bundesregierung arbeiten demnach mehr als 60 Prozent der erwerbstätigen Mütter als Teilzeitkräfte in einem Betrieb, für den aufgrund der Größe die verpflichtende Regelung nicht gilt. Ist das nun ein Erfolg, wie Medien und Sozialdemokraten meinen? Nein, es ist im Grunde PR-Politik, von der man annimmt, der Wähler würde sie nicht durchschauen.

Als Erfolg wird auch die Rückkehr zur Beitragsparität bei der Gesetzlichen Krankenversicherung gewertet. Das ist es sicherlich auch, nur fragt man sich, warum diese unter Rot-Grün 2005 abgeschafft worden ist. Damals hieß es, man müsse die Lohnnebenkosten senken, ein Unsinn, den Sozialdemokraten heute in der Rückschau immer noch für richtig erachten. Bei den Koalitionsverhandlungen zu dieser Regierung war die Wiederherstellung der Beitragsparität allerdings nur der Trostpreis in der Gesundheitspolitik, da die Bürgerversicherung unter keinen Umständen mit der Union zu vereinbaren war. Der Klang der guten Tat verdeckt allerdings auch hier die Schattenseiten. So steigen seit Jahren die Zuzahlungen für die Versicherten immer weiter an. Änderungsbedarf sieht die Große Koalition aber nicht.

Bei den Paketboten ist bislang noch gar nichts verbessert. Die sogenannte Nachunternehmerhaftung existiert erst einmal nur als Absichtserklärung, die der Koalitionsausschuss getroffen hat. Dafür akzeptierte die SPD im Gegenzug eine Forderung des Wirtschaftsministers nach mehr Bürokratieentlastung für kleinere und mittlere Unternehmen, was auch immer das konkret heißen mag. Zu befürchten ist, dass am Ende wieder nur ein klangvoller Name zustande gebracht wird, während die Regelung selbst lauter Ausnahmen kennt. Der typische GroKo-Kompromiss. Das ist zu wenig, um als erfolgreiche sozialdemokratische Politik durchzugehen. Allein deshalb ist es auch ausgeschlossen, dass die Sozialdemokraten künftig bessere Wahlergebnisse werden einfahren können.

Intellektueller Abbruch

Diese Erkenntnis ist offensichtlich, aber weder für die Sozialdemokraten noch für viele Mainstream-Medien relevant. Die sprechen zwar von einer bedrohlichen Lage für den Fortbestand der Großen Koalition, meinen damit aber nicht den sofortigen Bruch. „Das heißt, wir stehen vor der Frage: Gibt es die GroKo Weihnachten noch?“, wird Thomas Oppermann zum Beispiel bei Spiegel Online zitiert. Und weiter: „Wir müssen Trophäen einfahren, oder wir werden Konsequenzen ziehen müssen.“ Es bleibt also wie so häufig bei einer leeren Drohung, die Entschlossenheit bloß vortäuscht. Auch Oppermann bedient das Märchen von den Erfolgen, die den Sozialdemokraten nur leider nicht zugerechnet würden.

Sozialwissenschaftler Harald Welzer springt bei. „Da ist seit Gerhard Schröder nichts passiert – das muss man einfach mal so sagen. Das war der Letzte in der SPD, der sich getraut hat, jenseits der tradierten Spur zu denken und das auch umzusetzen.“ Das ist erbärmlich. Welzer meint, dass der Stimmenverlust für die Sozialdemokraten daher rühre, dass die Partei auf intellektuelle Köpfe verzichte. Soweit war Andrea Nahles auch schon, als sie vor einem Jahr einen intellektuellen Aufbruch forderte. Vor- und Nachdenker schaden sicherlich nicht, es ist auch richtig, dass die Auswahl des Parteipersonals etwas Inzestuöses an sich hat, doch ist der Befund vollkommen falsch, dass die SPD gerade dadurch an Rückhalt verlöre. Und noch falscher ist es, dass diese Leerstelle durch etwas Neues Emanzipatorisches ersetzt würde. Das Gegenteil ist der Fall.

Das Fehlen sozialdemokratischer Politik ist eine Katastrophe und bitter bleibt dieser Zustand auch in Zukunft. Er hinterlässt Enttäuschung und zwar nur die. Den Platz füllen inzwischen die Rechten, die als Rechte erkennbar sind und die Rechten, die immer noch als Linke gelten. Offenbar werden auch die Intellektuellen durch Farben blind. Sie wollen glauben, dass sich mit den grünen Überfliegern eine neue Heimat kritischen Denkens herausgebildet hat. Wie naiv. Ein intellektueller Kopf, der zwar oft von den Parteien angehört, aber auf den eigentlich nie gehört wird, ist Heiner Flassbeck. Er schrieb nach der Europawahl die zutreffende Bemerkung.

Die Partei, die in Deutschland, Europa und in Bremen als der große Gewinner aus den Wahlen vom Sonntag hervorgegangen ist, hat panische Angst vor jeder Position, die den wirtschaftspolitischen Mainstream in Frage stellt. […] Die Angst der Grünen vor der Wirtschaft und vor unorthodoxen Positionen in der Wirtschaftspolitik ist so groß, dass sie sich in die Arme von Parteien begibt, die für den Klimawandel nur Lippenbekenntnisse aufbringen oder Bekenntnisse zur Marktwirtschaft im Umweltschutz, die unendlich weit von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Problematik entfernt sind. Alles scheint für den grünen Spitzenpolitiker erträglicher zu sein, als die Vorurteile der schwäbischen Hausfrau in Sachen „Haushaltsdisziplin“ in Frage zu stellen.

So gesehen, wird niemand, der vorgibt progressiv zu sein, irgendeine Trophäe einsammeln können, solange er sich zum neoliberalen Weltbild bekennt. Das ist das Problem. Was Wähler davonlaufen lässt, ist eben nicht der Mangel an intellektuellen Köpfen, sondern der Mangel an Köpfen, die noch wissen, was sozialdemokratische Politik ist und die bereit sind, diese auch gegen alle Widerstände durchzusetzen. Genau das tun Sozialdemokraten, Grüne und Linke aber nicht. Die SPD jammert lieber herum, was mit der Union alles nicht geht, während sie tolle Namen für schwache Gesetze erfindet. Die hippen Grünen drücken sich um die soziale Frage herum und bleiben Kriegspartei. Und auch die Linken streben nur noch in das urbane linksliberale Milieu. Es besteht also keine Gefahr mehr für die marktkonforme Demokratie.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Rechtsanwalt Veits  Juni 3, 2019

    Soweit trefflich der herrschende Neoliberalismus angesprochen wurde, erlaube ich mit den Hinweis auf:

    Die neoliberale Schieflage der EU

    *Zu den Konstruktionsfehlern der EU-Verträge*
    Vortag von Prof. Andreas Fisahn
    (40. Minute bis 1:03 Std.)

    https://www.youtube.com/watch?v=jBKWX2_KteY

    (Ab etwa 1:36/1:43 Std: Zur Frage, ob und wie man die EU-Verträge ändern könnte)

    Dazu:

    Das Buch „Halbierte Demokratie“ von Andreas Fisahn
    (Seite 100 ff)
    Attac-Texte
    https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/hinter-verschlossenen-tueren-halbierte-demokratie/