Erdogan führt den Putsch

Geschrieben von: am 16. Jul 2016 um 22:05



    Die Straßen sind leer, auch Polizei ist kaum noch zu sehen. Der Taxifahrer, ein bekennender Sozialdemokrat um die 50, spricht aus, was viele bereits in der Nacht in den sozialen Medien äußern: „Was soll das für ein Putsch sein mit fünf Panzern und zwei Flugzeugen?“, fragt er und redet sich allmählich in Wut. „Dieses Land hat viele Staatsstreiche erlebt, aber so was noch nie. Angeblich ist die Luftwaffe verwickelt. Und dann kann der Präsident mitten im Putsch nach Istanbul fliegen?“

    Er sei gegen Machtergreifungen des Militärs, betont er. Doch sein Verdacht lautet: Das hier ist eine Inszenierung. „Erdogan hatte keine Mehrheit für das Präsidialsystem. Und mit seiner Ankündigung, Syrer einzubürgern, hat er auch seine eigenen Anhänger verprellt. Jetzt ist er für alle Zeiten der Held. Ich fürchte, der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst.“

    Quelle: Welt Online

    Es war ein bemerkenswerter Satz, den der türkische Ministerpräsident am Samstagnachmittag im Parlament von sich gab. „Jedes Land“, sagte Binali Yıldırım, „das jetzt noch Fethullah Gülen und seine Bewegung unterstützt, werden wir als im Kriegszustand mit der Türkei betrachten“. […]

    Tatsächlich hatte die Gülen-Sekte schon zum Zeitpunkt, als Erdoğan 2002 an die Macht kam, erheblichen Einfluss in Justiz, Polizei und anderen Behörden – wovon Erdoğan jahrelang profitierte. Aber gerade in der Armee bekamen Islamisten keinen Fuß auf den Boden. Dass jetzt ausgerechnet säkulare Putschisten, die nach eigenem Kommuniqué die weitere Islamisierung der Türkei verhindern wollten, im Auftrag von Gülen unterwegs gewesen sein sollen, ist in hohem Maße unwahrscheinlich.

    Viel wahrscheinlicher ist, dass Erdoğan gegenüber den USA jetzt die Gunst der Stunde nutzt, um eine andere Forderung durchzusetzen: Im Kampf gegen den IS arbeitet das US-Militär in Syrien eng mit den syrischen Kurden zusammen. Erdoğan sieht das als Affront, weil die syrischen Kurden auch von der türkisch-kurdischen PKK-Guerilla unterstützt werden. Das müsse aufhören, hat der türkische Präsident von US-Präsident Barack Obama mehrfach gefordert. Die USA müssten sich zwischen der Türkei und der PKK entscheiden.

    Quelle: taz

    Nach dem Putschversuch in der Türkei ist zumindest eines klar: Das autoritäre Regime von Recep Tayyip Erdogan nutzt die Gunst der Stunde für eine Radikalisierung ihrer Konfrontation nach innen. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Anadolu wurden fast 2.800 Richter abgesetzt – das ist fast ein Fünftel aller Richter indem Land. Mehrere Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in Ankara wurden vom Dienst entbunden – angeblich laufen gegen sie Ermittlungen. Mehrere Richter des Verfassungsgerichtes, ein weltliches Gegengewicht zu Erdogans immer stärker religiös unterfütterter Macht, wurden gefeuert. […]

    Eher wahrscheinlich ist eine ganz andere Variante: Es gab einen realen Putschversuch, dieser fand aber unter für die Aufständischen sehr ungünstigen Bedingungen statt. Der türkische Journalist Ahmet Sik wird in Zeitungen mit dem Hinweis zitiert, dass das Erdogan-Regime im Vorfeld Kenntnis von den Planungen erhalten hatte. Dies könne die Putschisten zum vorzeitigen Handeln gezwungen haben – und es erkläre auch, dass zum Beispiel regierungstreue Sicherheitskräfte ganz offenbar mobilisiert waren. Es habe erhöhte Sicherheitsvorkehrungen gegeben. Zudem reagierte die Erdogan-Regierung wie vorbereitet: Dass tausende Richter schon wenige Stunden nach dem Scheitern des Coups abgesetzt und Vertreter der Judikative inhaftiert wurden, lässt schließen, dass der »Gegen-Staatsstreich« Erdogans nicht erst in der Nacht zum Samstag erdacht wurde.

    Quelle: Neues Deutschland

    Das heißt aber nicht, dass dieser Putsch nicht doch gewisse Momente einer Inszenierung hatte. Die blitzschnelle Ausschaltung der Gegner im Sicherheitsapparat, die sofortigen massenhaften Verhaftungen lassen durchaus den Verdacht zu, dass die türkische Staatsführung die Eskalation bewusst suchte, um einen Vorwand für die weitere Festigung ihrer Machtbasis zu haben. Dies entspricht ganz der bisherigen Eskalationsstrategie Erdogans bei politischen Krisen. Die Regierung dürfte von den Plänen der Putschisten Kenntnis gehabt haben, da – wie die FAZ berichtet – die „Sicherheitsvorkehrungen durch regierungstreue Polizeikräfte“ vor dem Umsturzversuch „sichtbar erhöht wurden“.  […]

    Damit bleiben zwei wahrscheinliche Optionen bei dieser Verschwörungstheorie: Die Regierung hat Wind bekommen von den Putschvorbereitungen und die Putschisten sahen sich zum übereilten Handeln gezwungen. Erdogan könnte die militärische Eskalation mit den weitgehend isolierten Gülen-Anhängern bewusst zugelassen haben, um einen neuen autoritären Schub in der Türkei entfachen zu können. Statt sie im Vorfeld des Putsches zu verhaften, war es politisch einträglicher, die isolierten Putschisten ins offene Messer laufen zu lassen. Er kann nun seine Machtvertikale ausbauen, indem er den Staatsapparat säubert und die Opposition weiter knebelt, während die ersehnte Präsidialverfassung zum Greifen nahe ist.

    Sollte sich diese Hypothese bestätigen, scheinen historische Analogien zum Röhm-Putsch in der Frühphase des deutschen Faschismus angebracht, als mit der Ausschaltung der SA strategische Weichenstellungen für die Machtkonstellationen im NS-Staat getroffen wurden. Eine ähnliche Bereinigung und Säuberung der Machtvertikale scheint nun auch beim extremistischen politischen Islamismus in der Türkei stattzufinden, der in Wechselwirkung mit dem türkischen Nationalismus zu einer Art islamischen Klerikalfaschismus verschmilzt.

    Quelle: Telepolis

    Gibt es zwischen dem Putschversuch und der folgenden Verhaftungswelle einen Zusammenhang? Einiges spricht für die These, dass hohe Offiziere Erdogans Säuberung in Militär und Justiz zuvorkommen wollten. […]

    So sollten in Ungnade gefallene Angehörige der Streitkräfte vor der jährlichen Sitzung des Hohen Militärrats aus dem Verkehr gezogen werden. Unter Vorsitz des Staatspräsidenten werden bei diesem Treffen Ende August die Beförderungen und Pensionierungen beschlossen.

    Offenbar wollten einige Generäle, die sich am Putschversuch beteiligt haben, verhindern, dass sie Ende August aus dem Dienst ausscheiden müssen. So seien die Planer des Putsches unter Druck geraten und sie mussten mit einem „Plan B“ ihren Putsch vorziehen, schrieb Sik.

    Quelle: FAZ

  • Viele Kommentatoren schließen eine Inszenierung des Putsches durch Erdogan inzwischen aus, weisen aber darauf hin, dass der türkische Staatspräsident wohl Kenntnis von dem geplanten Staatsstreich gehabt haben muss. Anders lassen sich die Ereignisse im Nachhinein nicht plausibel erklären. Sollte das zutreffend sein, hätte Erdogan dennoch Blut an seinen Händen kleben, da er offensichtlich plante, die Lage für seine Zwecke auszunutzen, ob dabei nun Menschen sterben oder nicht. Er konnte sich auf seine Anhänger verlassen. Auch das wäre streng genommen eine Inszenierung, die das gewünschte Ergebnis lieferte. Einen Staatsstreich, den Erdogan selbst führen kann, ohne großen Widerstand fürchten zu müssen.
  • Wenn Erdogan ohnehin vorgehabt hatte, eine weitere großangelegte Säuberungsaktion nach 2013 starten zu wollen und die betroffenen Militärs Wind davon bekamen, ist es ebenso plausibel, dass sie ihre nicht vorhandene, aber wohl letzte Gelegenheit nutzen wollten, um Erdogan zu stürzen. Bleibt die Frage, ob Erdogan den Putschversuch durch schwarze Listen im Vorfeld indirekt provozierte. Jedenfalls schien er dankbar für den Putschversuch zu sein (Geschenk Gottes). Hat er doch jetzt ein sehr viel stärkeres Mandat und größeren Rückhalt für seine Säuberungsaktion.
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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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