Die große Luftnummer

Geschrieben von: am 19. Nov 2018 um 22:30

RyanMcGuire / Pixabay

Der Beitrag von Andrea Nahles „Für eine große Sozialstaatsreform“ aus der FAZ vom 16. November ist nun auch auf der Seite der SPD erschienen. Um es vorwegzunehmen: Der Text ist eine herbe Enttäuschung, da die SPD-Führung einmal mehr eine große Luftnummer verbreitet, die zwar viel Wirbel erzeugt, im Kern aber nichts Neues enthält. Denn die Fragestellung, was nach Hartz IV kommen soll, rührt eben nicht aus einer Kritik an Hartz IV selbst. Im Gegenteil. Die Agenda-Politik wird weiterhin als Erfolgsgeschichte verklärt.

Dem FAZ-Leser erklärt

Das Eigenlob kommt gleich als erstes:

„Unsere Arbeitsvermittlung gehört zu den modernsten der Welt und der Sozialstaat ist gut ausgebaut. Diese Erfolgsgeschichte trägt die Handschrift der SPD.“

Das klingt, als wolle die SPD-Chefin den klassischen FAZ-Leser abholen und nicht die Menschen, die endlose Bewerbungstrainings der Jobcenter kennen und darunter vermutlich keine moderne Arbeitsvermittlung verstehen. Dass darüber hinaus bei der „modernsten Arbeitsvermittlung“ nur drei bis vier Prozent der Langzeitarbeitslosen überhaupt vermittelt und Gelder vor allem für nutzlose Maßnahmen verpulvert werden, wie der Bundesrechnungshof vor zwei Jahren nüchtern feststellte, scheint Andrea Nahles, die damals Arbeitsministerin war, schon wieder vergessen zu haben.

Die SPD-Chefin versucht lieber mit absoluten Zahlen Eindruck im neoliberalen Lager zu schinden. Sie stellt fest, dass 1 Billion Euro für soziale Sicherung ausgeben werden. Wenn nun Menschen trotz des vielen Geldes den Sozialstaat nicht mehr erkennen, muss das eindeutig an deren Gefühlen liegen, um die sich die SPD nun einmal verstärkt kümmern müsse.

„Und obwohl wir so viel Geld für die soziale Sicherung ausgeben, empfinden viele Menschen den Sozialstaat nicht als Unterstützung, sondern als Hindernislauf.“

Kurzum und wiederum an den FAZ-Leser gerichtet: Die Betroffenen sind einfach zu dumm, Leistungsansprüche zu erkennen und geltend zu machen.

„Die Erfahrung von Hilfebedürftigen im Hartz IV System ist geprägt von einer anonymen Bürokratie und der permanenten Drohung mit Sanktionen. Es sind oft gar nicht die Leistungen selbst, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigungen und Stigmatisierungen.

Die Leistungen selbst sind nach Nahles‘ Meinung nicht demütigend. Das gefällt dem FAZ-Leser. Menschen, die allerdings lange gearbeitet haben, arbeitslos werden und nach einer überschaubaren Zeit des Übergangs genauso behandelt werden, wie diejenigen, die nie gearbeitet haben, würden das vielleicht etwas anders sehen.

Bekannte Ladenhüter

Entscheidend für die SPD-Chefin ist, Menschen gar nicht erst in die Grundsicherung abrutschen zu lassen. Doch gibt es dazu neue Ideen? Leider nein. Eher bekannte Ladenhüter wie das Arbeitslosengeld Q, das bereits im Wahlkampf als klassischer Rohrkrepierer gegolten hat. Auch der Vorschlag nach einem höheren Schonvermögen („Erspartes muss großzügiger geschützt werden“) ist nicht neu.

„Wir müssen die vielen Menschen in den Blick nehmen, die seit vielen Jahren keine Chance hatten oder sogar seit der Einführung von Hartz IV in dem System verharren.“

Wie oft hat man diesen Satz schon vernommen und trotzdem immer wieder gehört, Hartz IV sei die richtige Reform zur rechten Zeit? Allein von der Beschreibung der skandalösen Zustände wird nur leider nichts besser. Doch die SPD-Vorsitzende tut genau das Gleiche, wie andere Parteiverweser vor ihr, die nicht einsehen wollten, dass die komplette Agenda 2010 ein Fehler war.

Immerhin: Der Ansatz mehr Förderung für Langzeitarbeitslose sowie den Einstieg in einen Sozialen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, ist der richtige Weg. Doch werden mit dem neuen Teilhabegesetz viel zu wenige Betroffene überhaupt erfasst. Außerdem ist ein Ablaufdatum mit dem Jahr 2024 bereits eingebaut. Neue Mehrheiten werden dann wieder nötig sein. Ob die SPD aber in ein paar Jahren politisch überhaupt noch eine Rolle spielt, ist höchst fraglich.

Unterm Strich ist das Bürgergeld, von dem Andrea Nahles abschließend spricht, kein tiefgreifender Mentalitätswechsel, sondern eine weitere Luftnummer, die dabei helfen soll, die Zeit bis zur nächsten Wahl zu überbrücken. Der Parteirechte Johannes Kahrs stellte bereits klar„Es wird vor 2021 keine Neuwahlen geben, und dann muss die SPD mit dem neuen Sozialstaatskonzept in den Bundestagswahlkampf gehen.“

Offene Fragen bleiben

Es geht also erneut um einen Etikettenschwindel, den das Satiremagazin „Der Postillon“ mal unter der Überschrift „SPD läutet traditionelles linkes Halbjahr vor wichtigen Wahlen ein“ treffend beschrieb. Nahles liefert dabei schon jetzt schöne, aber widersprüchliche Formulierungen. So schreibt sie:

„Zum Symbol für das Misstrauen des Staates gegenüber den Grundsicherungsbeziehern sind die Sanktionen geworden.“

Heißt das nun, die SPD will diese Praxis künftig abschaffen? Nahles laviert herum.

„Niemand hätte aber auch Verständnis, wenn Regelverstöße und der Missbrauch von Sozialleistungen ohne Konsequenzen blieben. Leistungssperren müssen aber immer das letzte Mittel sein. Das Existenzminimum eines Menschen darf niemals in Frage gestellt werden.“

Was die SPD-Chefin nun konkret will, bleibt unklar, vermutlich allen gefallen. Und zwar denen, die jetzt verschreckt denken, die SPD wolle Hartz IV tatsächlich beerdigen, was nicht stimmt, wie auch denen, die bereits in regelrechte Begeisterungsstürme verfallen und plötzlich an einen Befreiungsschlag ihrer Parteichefin glauben.

Immerhin wird sich das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich im Januar 2019 erstmals mit der Sanktionspraxis des SGB II beschäftigen. Ob dabei aber mehr als heiße Luft herauskommen wird, bleibt fraglich. Wie sollte man auch das offenkundig verfassungswidrige massenhafte Kürzen des Existenzminimums, das es seit 14 Jahren gibt, angemessen heilen oder gar sanktionieren. Das Gericht weiß es wohl selbst nicht so genau und hat daher seit 2016 lieber andere Entscheidungen vorgezogen, wie die zum dritten Geschlecht.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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