Liebling „Covidiot“

Geschrieben von: am 03. Aug 2020 um 12:47

Das Etikett „Covidiot“ wird in diesen Tagen gern verteilt, an Menschen, die die Pandemie bagatellisieren, aber auch an diejenigen, die eine kritische Haltung einnehmen und beispielsweise Maßnahmen der Regierung hinterfragen oder diese ablehnen. Als „Covidioten“ müsste man dann aber auch Bundes- und Landesregierungen bezeichnen, die das Virus lange Zeit verharmlost haben, folglich viel zu spät auf die Pandemie reagierten und dann einen Lockdown verhängen mussten, der nun eine schwere Wirtschaftskrise ausgelöst hat. Die Verharmloser von einst tun jetzt aber so, als hätten sie immer richtig gelegen und diffamieren Protestierende auf den Straßen, die die Regierungshaltung nicht teilen, um so energischer. Diese Menschen werden im nächsten Schritt dann auch für eine zweite Welle verantwortlich gemacht, vor der bereits seit Tagen eindringlich gewarnt wird. Das nutzt offenkundig einer Regierung, die ursprünglich komplett daneben lag und weiterhin von Versäumnissen ablenken will, die unter dem neoliberalen Dogma einfach fortbestehen.

Nehmen Sie den Gesundheitssektor und den Mangel an Pflegekräften. Seit Jahren bekommt die Regierung das Problem nicht in den Griff, wirbt im Ausland bis nach Mexiko um Fachkräfte, doktert an Ausbildungswegen herum und hofft mit Positivkampagnen zur Steigerung der Attraktivität über schlechte Arbeitsbedingungen und miese Bezahlung hinwegtäuschen zu können. Oft hört man von Politikern, der Pflegeberuf sei ja etwas ganz Besonderes, ein Dienst am Menschen und damit eine Berufung. So als ob es auf die anderen Dinge wie Bezahlung oder gute Arbeitsbedingungen, die auch viel mit Gesundheit zu tun haben, nämlich mit der Gesundheit der Beschäftigten, nicht so ankäme. Das ist falsch, passt aber zu einer neoliberalen Grundhaltung, mit der es schon schwerfällt einen 1500 Euro Pflegebonus für einige, nicht mal für alle in der Pflege Tätigen, zu organisieren. Ausgiebiges Geklatsche gibt es dagegen umsonst und weitere Milliardensummen ohne große Diskussion nur für Aktionäre.

Nehmen Sie das Bildungssystem und den Mangel, der beim Personal und bei der Ausstattung in den öffentlichen Gebäuden seit Jahren herrscht. Unter diesen Bedingungen ist schon der normale Regelbetrieb lange vor Corona zu einer Zumutung geworden. Der sogenannte Digitalpakt Schule, mit viel Tamtam angekündigt, lief im vergangenen Jahr nur schleppend an, weil Förderrichtlinien kompliziert sind und geforderte Medienentwicklungspläne Zeit brauchen. Schafft man noch WLAN-Zugänge und andere technische Infrastruktur, wenn der Schulanbau aus den 1970er Jahren bereits marode ist, das Geld für eine Sanierung aber erst in der mittelfristigen Finanzplanung irgendwo am Ende auftaucht? Die „Covidioten“ der Regierung, die für diese Zustände vor Ort mitverantwortlich sind, stecken deshalb in einem Dilemma, weil sie eine Öffnung von Schulen nun unter Corona-Bedingungen bewerkstelligen müssen, in denen Raumkonzepte schon immer auf betriebswirtschaftliche Kante genäht sind.

Der Raum ist nicht da, Busse im übrigen auch nicht, da der öffentliche Nahverkehr aus betriebswirtschaftlichen Gründen stets schlanker gemacht werden musste, also aus der Fläche mangels Ertrag zu verschwinden hatte. Überfüllte Busse waren also bereits an der Tagesordnung und leider hinzunehmen, als Corona von den „Covidioten“ der Politik noch verharmlost wurde. Nun soll das Kunststück eines Normalbetriebes dennoch gelingen, vielleicht weil der Tag insgesamt 24 Stunden hat. Schüler und Lehrer müssen halt flexibler werden, Stunden und Pausen anders organisieren, Fenster und Türen auch im Winter geöffnet lassen oder vielleicht ganz auf staatliche Bildung verzichten und häufiger zu Hause lernen. Das geht ja auch, zumindest für einige. Die Benachteiligten lässt man hingegen da, wo sie sind. Denn Ungerechtigkeit und Armut gibt es in der neoliberalen Welt nicht, allenfalls Sozialschmarotzer, die immer nur noch mehr Leistungen fordern oder sich diese auf gemeine Weise erschleichen. Daher fällt es auch leicht, diese Menschen pauschal zu beschimpfen, auch dann, wenn sie vielleicht mal eine Demo machen.

Aufgabe der Medien wäre es nun, diesen Hintergründen etwas differenzierter nachzugehen, statt den Menschen einfach nur das Etikett „Covidiot“ mit Hang zur Verschwörungstheorie und Rechenschwäche umzuhängen. In vielen Fällen mag das sogar zutreffend sein, doch sonderlich erkenntnisreich ist das Zeigen von Dummheit nun wahrlich nicht. Falsch gerechnet hat ja vor allem die Regierung. Sie gibt vor, im Februar und März noch nicht gewusst zu haben, wie gefährlich das Virus sei. Dass die Medien damals auch an der Verbreitung von Botschaften mitwirkten, die vor allem die Gefahr des Virus herunterspielten, lässt sich leicht nachweisen. Die Berichte sind alle noch zu finden und stehen im Grunde exemplarisch für eine regierungsnahe Haltung der Medien, die auch heute noch erklärungsbedürftig ist. Dass beispielsweise Schutzausrüstung in Krankenhäusern und Arztpraxen fehlte, bleibt unabhängig von Corona ein himmelschreiender Skandal, da es Pandemiepläne schon immer gegeben hat. Sie wurden aber nicht sonderlich ernstgenommen. Und weil das so ist, riet das RKI auch erst von Alltagsmasken ab, um diese jetzt, nachdem sich jeder selbst irgendeinen Lappen zusammengenäht hat, für unabdingbar und wirksam zu erklären.

So leicht sollte die Regierung nicht davonkommen dürfen…


Bildnachweis: geralt / Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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