Politischer Autismus? – wohl eher ein journalistischer

Geschrieben von: am 04. Nov 2008 um 16:59

Die Neue Presse Hannover zeigt sich heute erleichtert über das Scheitern von Andrea Ypsilanti in Hessen. Mit „Blind ins Verderben“ überschreibt Claus Lingenauber seinen Leitartikel auf Seite 1.

Ihr Ziel, Roland Koch als Regierungschef abzulösen, hat sie unempfänglich gemacht gegenüber Stimmungen in der eigenen Fraktion und taub gegenüber Bedenken aus Berlin. Dabei war sie bereits einmal gescheitert, gelernt hatte sie aus dem Debakel aber nichts. Augen zu und vorwärts … Politischer Autismus in Reinkultur.

Mir scheint, Herr Lingenauber hat seinen persönlichen Autismus auch noch nicht überwunden. Sonst wäre ihm sicher nicht entgangen, dass der zwischen SPD und Grünen ausgehandelte Koalitionsvertrag in Hessen, von der dortigen SPD mit 95 Prozent angenommen wurde. Da hat man schon deutlich schlechtere Ergebnisse gesehen.

Ypsilanti wäre wahrlich eine schlechte Wahl gewesen: machtbesessen, blauäugig, selbstbezogen, beratungsresistent. Sie dürfte ihre Zukunft hinter sich haben.

Hier überschlägt sich der Kollege Lingenauber aber wieder mit zahlreichen Zuschreibungen. So als ob er unfähig wäre, seinen Groll journalistisch auf den Punkt zu bringen. Oder fehlt es einfach an den nötigen Fakten? Andrea Ypsilanti hat in den letzten acht Monaten alles andere als stur eine Linie verfolgt. Im Gegenteil. Sie hat ihre Pläne dutzende Male zu Abstimmungen stellen lassen und sich eines demokratischen Rückhalts vergewissert. Das kennen die Redakteure der Neuen Presse wahrscheinlich nicht. Zu jeder dieser Aussprachen hätten Bedenken geäußert werden können. Was nicht geschah. Gegenüber wem hätte Frau Ypsilanti also taub sein sollen Herr Lingenauber?

Doch nun wird es das Menetekel Ypsilanti nicht geben. Den vier Rebellen sei Dank.

Am Ende dankt Herr Lingenauber den vier Rebellen, die ganz kurzfristig in Gewissensnot gerieten und von den Linken schwafelten, obwohl die gar nicht am Koalitionsvertrag mitgeschrieben haben. Wie absurd und frei jeglicher Kritikfähigkeit ist das eigentlich Herr Lingenauber?

Ist die Zustimmung der Linken zu einem rot-grünen Regierungsprogramm verwerflich? Oder ist es nicht eher schäbig, seine Spitzenkandidatin und die vielen an der Aushandelung des Koalitionsvertrages Beteiligten, mit scheinheiligen Argumenten in letzter Minute vor den Kopf zu stoßen?

Vielleicht hilft ihnen die Vita der glorreichen vier weiter:

Jürgen Walter ist Wortführer der SPD-„Netzwerker“. Ihm fehlte auf dem Nominierungsparteitag gegen Ypsilanti nur eine Stimme. Plagt ihn wirklich sein Gewissen?

Silke Tesch gehörte zur sog. „Aufwärts“-Runde, die sich als Opponent zu Ypsilantis linker „Vorwärts“-Runde versteht. Plagt sie wirklich ihr Gewissen?

Everts ist eine Vertraute Walters. Plagt sie wirklich ihr Gewissen?

Und Metzger ist Aufsichtsratsmitglied beim Energieversorger HSE (einer 40%igen Eon-Tochter). Sie ist damit naturwüchsig gegen die Abschaltung von Kernkraftwerken. Plagt sie wirklich ihr Gewissen?

Lieber Herr Lingenauber, haben sie ein Gewissen?

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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