Wenn der Herrenwitz um sein Überleben kämpft

Geschrieben von: am 30. Jan 2013 um 22:38

Wie sieht die Schwerpunktsetzung bei den überregionalen Themen im Augenblick aus. Auf vielen Blättern konnte man beispielsweise am Dienstag die winkende niederländische Königin als Aufmacher sehen. Was hat die da zu suchen? So royales Zeugs wird halt gelesen, könnte man meinen. Schließlich sind die Livesendungen der öffentlich-rechtlichen und der Privaten mit dauerquasselnden Adelsexperten der Renner im Fernsehen. Weiter geht es dann mit der Sexismus-Debatte, bei der der Herrenwitz offenbar um sein Überleben kämpft. Seit beinahe einer Woche wird das Thema episch behandelt und in den Gazetten ausgebreitet. Lustig fand ich in diesem Zusammenhang einen Kasten des Bonner General-Anzeigers am heutigen Mittwoch, mit der Überschrift, Diskutieren sie mit. Der stand auf einer ganzen Brüderle Seite unten rechts in der Ecke.

General-Anzeiger

Tja, ob diese Story so viel Aufregung wert ist, scheint zumindest fraglich. Inzwischen schreiben Journalisten ja über Journalisten. Es gibt weitaus wichtigere Themen als Brüderles Verhältnis zu Journalistinnen des Stern. Zum Beispiel Brüderles Haltung zur Finanzkrise oder zur Rede von Angela Merkel auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.

Schreiben sie dazu mal ne kurze Meldung, lautete die Aufgabe auf einem Seminar für Journalisten, an dem ich in Bonn zurzeit teilnehme. Heraus kam erwartungsgemäß die Erkenntnis, dass Reden von Politikern im Allgemeinen und von Merkel im Besonderen sehr schwer zu verstehen seien. Viel heiße Luft eben. Die erkannte Nachricht bestand nun darin, dass Merkel Rückhalt für anstehende “Strukturreformen” erbat. Dabei war sie in Davos ausnahmsweise einmal konkret geworden und hat nicht weniger als einen “Pakt des Schreckens” gefordert, verbunden mit der Drohung, Europa dafür nach deutschem Vorbild umbauen zu wollen. Es stünde nicht weniger als die Sicherung von weltweiten Wettbewerbsvorteilen auf dem Spiel. Die Finanzkrise habe diesbezüglich ein Zeitfenster eröffnet, um Druck aufzubauen, der aus Merkels politischer Erfahrung heraus für die Umsetzung jener “Strukturreformen” unerlässlich sei. Mein Einwand bezüglich der Brisanz der gehaltenen Rede wurde von den Kollegen nicht geteilt und eher als zu harte Interpretation meinerseits bewertet.

Kein Wunder, dass sich die Medien in ihrer Mehrheit lieber mit Brüderle und dem Herrenwitz beschäftigen als mit der Merkel-Rede. Von Regierungsseite trägt der Text übrigens die Überschrift “Die Besten als Vorbild”, was für sich genommen schon eine unverschämte Anmaßung ist. Wenn man bedenkt, wohin der von Merkel gelobte und maßgeblich vorangetriebene Konsolidierungskurs in Europa geführt hat, kann man der Kanzlerin sogar eine Falschbehauptung nachweisen. Sie sagte, dass Konsolidierung und Wachstum zwei Seiten derselben Medaille seien. Dabei hat nicht nur die sichtbare und brutale Realität in den Südländern, sondern inzwischen auch der IWF diese kühne These sehr deutlich widerlegt.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. der-olli  Januar 30, 2013

    Was Merkel anstrebt kann man nur Wirtschaftsfaschismus nennen.