Minderheitsregierung: Mehr Fantasie wagen

Geschrieben von: am 18. Nov 2017 um 7:00

Die lange Nacht, in der nichts geschah, beflügelt nun die Fantasie einiger Autoren. Wenn Jamaika nicht zustande kommt, könnte Merkel ja eine Minderheitsregierung in Erwägung ziehen, heißt es. Ja, das könnte sie, wenn es ihr gelänge im dritten Wahlgang mehr Ja- als Nein-Stimmen auf sich zu vereinigen (vgl. Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages WD 3 – 3000 – 188/13). Doch warum sollte das Merkel gelingen? Andere hätten wohl genauso gute oder sogar noch bessere Chancen. Ich fantasiere das mal zusammen.

Die Union verfügt als stärkste Fraktion über 246 Sitze. Zusammen mit der FDP käme sie auf 326. Die absolute Mehrheit liegt bei 355 Sitzen. Angenommen Merkel würde im dritten Wahlgang 326 schwarz-gelbe Ja-Stimmen bekommen, was gar nicht mal so sicher ist, dann müssten sich in diesem Fall mindestens 58 Abgeordnete enthalten oder ungültig wählen, damit die Zahl der Nein-Stimmen geringer als die der Ja-Stimmen ist. Da SPD, AfD und Linke (314 + 2 Fraktionslose) ziemlich sicher mit Nein stimmen würden, fiele den Grünen diese Aufgabe zu.

Nur wieso sollten die Grünen nach gescheiterten Sondierungen, die voller Demütigen durch die CSU gekennzeichnet waren, einer schwarz-gelben Regierung unter Verzicht auf eigene Ministerposten ins Amt verhelfen? Das wäre ja der grünen Basis noch schwerer zu vermitteln. Es sei denn, die CDU trennt sich vorher von der CSU. Nachvollziehbarer ist da schon das Angebot der AfD, die eine schwarz-gelbe Regierung ohne Merkel tolerieren würde. So bitter das nun klingen mag, aber die AfD scheint als einzige Fraktion offenbar begriffen zu haben, wie die Machtverhältnisse tatsächlich sind.

Tanz ohne Hemd

Merkel ist nach ihrer Wahlniederlage in einer ganz schwachen Position, doch FDP und Grüne tänzeln seit acht Wochen trotzdem um Mutti herum und machen sich dabei lächerlich. Wären sie schlau, hätten sie den Rücktritt Merkels zur Bedingung von Sondierungsgesprächen gemacht und damit ganz nebenbei auch die SPD wieder zurück ins Spiel gezwungen. Mit der Ablösung Merkels hätten FDP und Grüne dann auch den im Wahlkampf versprochenen Politikwechsel strategisch besser verkaufen können, auch wenn das inhaltlich zunächst einmal überhaupt nicht stimmt. Jedenfalls stünden sie jetzt nicht überraschend ohne frische Hemden da.

Wären Grüne und FDP noch schlauer, würden sie die zerstrittene Union, die ja offenbar unfähig zur Trennung von Merkel und Seehofer ist, einfach allein mit ihren Problemen und Obergrenzen lassen. Grüne und FDP könnten – Achtung total verrückt – den Versuch wagen, ein progressives Bündnis mit SPD und Linken auf die Beine zu stellen. Entweder in einer Koalition aus ebenfalls vier Parteien oder in einer tolerierten Minderheitskonstellation, was freilich nur ginge, wenn das neoliberale Programm, mit dem die AfD auf der anderen Seite ja mehr oder weniger einverstanden wäre, endlich verschwände und tatsächlich durch einen Politikwechsel ersetzt würde.

Versuch macht klug

An der Chemie dürfte es ja nicht scheitern. FDP und Grüne verstehen sich bereits ganz gut, das haben die bisherigen Sondierungen gezeigt. Da es nun aber insbesondere mit der CSU nicht klappt, wäre es doch zumindest mal einen Versuch wert, auszuloten, ob das Verhältnis zur SPD belastbarer ist. Die hatte sich ja bisher nur einer Fortsetzung der Großen Koalition verweigert und sich sonst lautstark darüber beklagt, dass ein Jamaika-Bündnis gar nicht zu Potte komme und wenn, sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständige, was wiederum sehr schlecht für Deutschland wäre.

Wer also einen Politikwechsel will, sollte das absurde Jamaika-Theater möglichst bald beenden und weitere – auch verrückt klingende – Optionen einmal ernsthaft prüfen. Ein Kanzler ließe sich auch mit anderen Mehrheiten wahrscheinlich noch sicherer wählen als die Variante Merkel 4.0. Wer aber lieber so weitermachen will, wie bisher, sollte das Gerede von Verantwortung und großen Aufbrüchen schnell wieder vergessen und sich lieber zu den passenden Farben auf der rechten Seite des Plenums bekennen.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Hartmut Schwarz  November 20, 2017

    Jetzt können einige Autoren ihrer Fantasie freien Lauf lassen.
    ..Eilmeldung…FDP bricht Sondierungen ab…

  2. Arnold  November 20, 2017

    Vielleicht spekuliert die FDP tatsächlich auf eine AfD gedultete Minderheitsregierung mit der CDU ohne Frau Merkel. Im Interview äußerte ein FDP Abgeordneter dass es mit der CDU allein gut funktionier hätte.