Der Wählerwille ist Interpretationssache

Geschrieben von: am 12. Okt 2017 um 8:55

Das Parlament soll ein Ort konstruktiven Zusammenwirkens sein. Abgeordnete werden deshalb für eine bestimmte Zeit gewählt und haben weitgehende Rechte und Pflichten. Die vorzeitige Auflösung eines Parlaments ist daher kein normaler Vorgang und immer das letzte Mittel. In Niedersachsen wird aber die Auflösung des Landtags als einzig logische Konsequenz beschrieben, da ja die Mehrheitsverhältnisse angeblich entscheidend verändert worden seien. Da das nicht stimmt, wird entsprechend hanebüchen argumentiert.

Mit einer erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit sind die Hürden für eine Selbstauflösung des Landtages bewusst höher angelegt, als beispielsweise bei einem Konstruktiven Misstrauensvotum, das die Verfassung als demokratisches Mittel ausdrücklich zulässt, das aber nur am Rande von einer mutmaßlich neuen Mehrheit im Parlament in Erwägung gezogen wurde. Ministerpräsident Stephan Weil stellte im TV-Duell diese neue Mehrheit korrekterweise infrage, sorgte aber dennoch dafür, dass am Ende eine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Auflösung des Landtags zustande kam.

Dabei hätte er seiner Einschätzung vertrauen und einfach die paar Wochen bis zum regulären Ende der Legislaturperiode weiterregieren können. Doch das kam nicht in Betracht, da seiner Meinung nach, der verfälschte Wählerwille rasch korrigiert werden müsse. Sein Herausforderer Bernd Althusmann hält nichts vom verfälschten Wählerwillen, er beschreibt den Wechsel einer Abgeordneten als zulässigen parlamentarischen Vorgang. Er stimmt aber mit dem Ministerpräsidenten darin überein, dass stabile Verhältnisse wieder hergestellt werden müssten, da Rot-Grün ja die Mehrheit verloren habe. Und das ginge nur mit Neuwahlen.

Mit dieser Argumentation werden die Rechte des Parlaments und der Abgeordneten auf den Kopf gestellt. Es herrschen nämlich immer stabile Verhältnisse, so lange eine Regierung im Amt ist. Sie kann mit eigener Mehrheit, wechselnden Mehrheiten oder als Minderheit regieren. Sie kann auch zurücktreten, muss dann aber geschäftsführend so lange weitermachen, bis eine neue Regierung im Amt ist. Auch dafür gibt es ein Beispiel. Nach der Landtagswahl in Hessen im Januar 2008 scheiterten alle Versuche, eine neue Regierung zu bilden. Ein Jahr lang herrschten trotzdem stabile Verhältnisse. Der Landtag beschloss Gesetze, die geschäftsführende Regierung setzte diese um.

Mag sein, dass solch ein Zustand eher als ungewöhnlich oder als instabil empfunden wird. Er ist es aber nicht und schon gar nicht, wenn nur wenige Wochen bis zum regulären Wahltermin verbleiben. Um davon abzulenken behauptet Stephan Weil immer wieder, der Wählerwille sei durch den Wechsel einer Grünen-Abgeordneten zur CDU auf den Kopf gestellt worden. Das Argument ist allein schon wegen der Existenz des Konstruktiven Misstrauensvotums in der Verfassung, aber auch aus anderen Gründen schlichtweg falsch:

  1. Im Landtag sitzen keine Parteien, sondern Abgeordnete, die sich zu Fraktionen oder Gruppen zusammenschließen dürfen:

    Wie die Gewählten sich zusammenfinden, bleibt ihnen überlassen und zwar zu jeder Zeit. Das ergibt sich zwangsläufig aus den jeweiligen Landesverfassungen, dem Grundgesetz und den Geschäftsordnungen, über die die Abgeordneten in den Parlamenten selbst bestimmen dürfen. So gab es vor über einem Jahr in Baden-Württemberg die Aufspaltung der AfD-Fraktion. Eine Gruppe von Abgeordneten verließ die bisherige Fraktion und schloss sich unter der Bezeichnung Alternative für Baden-Württemberg (ABW) zu einer neuen Fraktion zusammen. Ein dazu eingeholtes Rechtsgutachten der Landtagsverwaltung bestätigte dies als einen legalen Vorgang, machte aber auch darauf aufmerksam, dass über eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung Regeln erlassen werden können, um eine beliebige Fraktionsvermehrung zu unterbinden, die nur dem Zweck dient, Finanzmittel, Redezeit und Einflussmöglichkeiten zu erhöhen.

  2. Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit, können es aber auch sein lassen:

    Durchaus nachvollziehbar ist die Auffassung, dass der Wähler mit seiner Zweitstimme eine bestimmte Partei unterstützen wolle und die nach einer Wahl festgestellten Kräfteverhältnisse im Parlament daher auch abgebildet werden müssen. Schließlich wirken die Parteien laut Artikel 21 Grundgesetz bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Dennoch entscheidet sich der Wähler mit seiner Zweitstimme für eine Parteiliste, deren Zusammensetzung er nicht beeinflussen kann. Er kann mit seiner Stimmabgabe auch keine Kandidaten dieser Liste ausschließen, sondern nur darauf vertrauen, dass die gewählten Abgeordneten auch jene Inhalte vertreten, mit denen sie und ihre Partei im Wahlkampf um Stimmen geworben haben. Seit Franz Müntefering wissen wir aber, dass es unfair ist, gewählte Abgeordnete an deren Wahlversprechen zu messen. Der Bruch von Wahlversprechen ist auch nicht strafbar. Übrigens gibt es immer wieder Abweichler, wie die vier SPD-Abgeordneten in Hessen 2008, die offen ankündigten, ihre Zustimmung zu einem in zahlreichen Regionalkonferenzen vorbereiteten Linksbündnis unter Führung von Andrea Ypsilanti zu verweigern. Es gab auch den unbekannten „Heide-Mörder“ in Schleswig-Holstein 2005. Der Fall führte übrigens nicht zu Neuwahlen, sondern zur Bildung einer Großen Koalition.

  3. Parteien interpretieren Wählerwillen immer selbst:

    Würde Stephan Weil tatsächlich ernst nehmen, was er mit Blick auf den Wechsel einer Grünen-Abgeordneten fortwährend behauptet, müsste er eigentlich eine klare Koalitionsaussage formulieren, um den Wählern einen Anhaltspunkt zu liefern, zu welcher möglichen Regierung sie ihren Willen bekunden sollen. Das tut er aber bewusst nicht. Er liest vielmehr aus dem Wahlergebnis, wie übrigens alle anderen Wahlgewinner und Verlierer auch, auf wundersame Weise den erklärten Wählerwillen heraus. Früher setzten sich Parteien noch für Bündnisse ein, indem sie beispielsweise ein gemeinsames Projekt beschrieben. Als sie aber spürten, dass sie mit dem immer gleichen Konzept des Neoliberalismus keine Mehrheit mehr zu erwarten hatten, folgte die Ausschließeritis. Als das dann auch nicht mehr half, um unliebsame Entwicklungen im Parteienspektrum zu stoppen, legte man sich überhaupt nicht mehr auf eine Koalitionsaussage fest und verfuhr nach der Methode Wundertüte, die in der Theorie immer noch am meisten Interpretationsspielraum bietet.

Sollte das Ergebnis am Sonntag also so ausfallen, wie es die Umfragen derzeit abbilden, dürfte sich Stephan Weil als klarer Gewinner fühlen und einen Regierungsauftrag verspüren, weil er einen riesigen Umfragerückstand aufgeholt und die SPD zur stärkste Kraft im neuen Landtag gemacht hat. Die CDU wird unterdessen erwidern, dass Rot-Grün ja gar keine Mehrheit mehr besitze und daher abgewählt worden sei, der Wähler also etwas anderes wünsche.

Die kleineren Parteien werden vermutlich erst mal alles analysieren müssen, um dann zu entscheiden, ob sie der Wähler mit der Übernahme der Regierungsverantwortung beauftragt oder doch auf die harten Bänke der Opposition verwiesen hat. Gut möglich, dass die Abgeordneten am Ende wieder zu der Erkenntnis gelangen, den Landtag erneut auflösen zu müssen, weil sie mit ihrem Interpretationslatein am Ende sind. In Wirklichkeit verstehen sie aber wohl zu wenig vom Parlamentarismus.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Hartmut Schwarz  Oktober 15, 2017

    Die SPD gewinnt in Niedersachsen dazu. Die CDU ist der Verlierer.
    Jetzt kann Frau Merkel die Jamaikakoalitionverhandlungen in Ruhe starten.